Beats und Braunkohle

Von Axel Rahmlow, Johannes Nichelmann und Grit Lieder · 21.07.2013
Für die Tagebauregion um das Städtchen Gräfenhainichen in Sachsen-Anhalt ist das Melt-Festival ein Segen. Sie profitiert wirtschaftlich vom Ansturm der 20.000 Fans elektronischer Musik. Die tun sogar noch etwas für den Umweltschutz - zumindest haben sie originelle Ideen.
Auf dem Bagger

Verrosteter brauner Stahl – daraus bestehen die Raupenketten, die sozusagen das Fundament des Baggers sind. Die muss man sich vorstellen wie die Ketten von einem Panzer. Die sind aber viel größer. Nämlich ungefähr so groß wie ich: 1,80 Meter.

Und jetzt geht es hier eine sehr, sehr enge Stahltreppe nach oben, dieser Stahl an den Seiten, der so grünlich vor sich dahinrostet. Puh. Das ist nicht so ganz ohne.

Jetzt bin ich hier in der Hauptetage des Baggers. Ungefähr so groß wie ein Volleyballfeld. Hier drinnen sind die ganzen Seilspulen, etwa so groß wie die Reifen von Lkw, mit denen die verschiedenen Förder- und Schwenkarme bewegt worden sind.

Heutzutage hier beim Melt-Festival steht vor allem die Lichtanlage für diesen Bagger. Und dazu auch noch die Hängematte vom Lichtmann.

Neben der Hängematte geht es weiter zum Führerhaus. Hier wartet schon Harald Harnisch mit Sonnenhut und mit Fliegerbrille. Herr Harnisch, Sie waren hier bis Ende der 80er-Jahre Baggerfahrer, führen heute interessierte Melt-Besucher durch diese alten Maschinen. Wie ist das, wenn Sie von hier oben auf Ihren alten Arbeitsplatz schauen?

"Das ist natürlich schon ein erhabenes Gefühl, nicht bloß einen Tagebau zu sehen, sondern jetzt eine Veranstaltungsarena, wo zahlreiche Bühnen stehen. Und wenn das hier richtig losgeht, dann kommt hier richtig Leben rein. Dann kommt man sich vor, als ob man hier über einem Ameisenhaufen sitzt."

Und hier ist jetzt das Kontrollfeld für den gesamten Bagger. Jede Menge verstaubte Anzeigen. Da sieht man nicht mehr, was das mal sein sollte. Aber es gibt hier auch noch ein paar Hebel. Zum Beispiel – für was auch immer das ist – die Eimerkettenspannvorrichtung. Passiert aber auch nichts mehr.
Dafür hat man von hier aber den besten Ausblick über das gesamte Gelände. Direkt vor mir ist die Hauptbühne und da wird gerade schon der Sound gecheckt für heute Abend.



1,3 Millionen Euro für die Region

Soweit das Auge reicht: Zelte! Es ist vormittags, noch tritt niemand auf den Bühnen des Festivalgeländes auf. Zeit, um Getränke und Lebensmittel zu besorgen. Direkt am Eingang zum Zeltplatz warten Bus-Shuttle und vor allem auch Taxi-Fahrerinnen und -Fahrer darauf, Melt-Besucher in den drei Kilometer entfernten Ort Gräfenhainichen zu fahren. Hier gibt es mehrere Supermärkte. Eine der Taxifahrerinnen lässt gerade fünf vollbepackte Niederländer aussteigen, das Handy immer am Ohr. Kaum ist ihr Taxi leer, steigen schon die nächsten ein.

Taxifahrerin: "Ist ja ein guter Verdienst für die Taxifahrer hier in der Region. Ist schon toll."

Autor: "Das heißt, würde das 'Melt' hier mal ausfallen, würden Sie das am Jahresende wirklich richtig merken?"

Taxifahrerin: "Ich denke schon, ja. Würde man schon merken. Wenn nicht was Anderes jetzt wäre. Ja, klar!"

Das Großraumtaxi hält gut zehn Minuten später auf dem Parkplatz des Discounters in Gräfenhainichen. Die Einkaufswagen sind längst vergriffen, im Schatten des Gebäudes sitzen in Gruppen verschwitzte Melt-Besucher.

Melt-Besucherin: "Die haben so was von aufgerüstet. Es war alles voll mit Dosenravioli, alles voll mit Bier und alles voll mit Wodka. Also die haben sich, glaub ich, schon sehr gut auf uns eingestellt. Das ging gut!"

Nur vereinzelt mischen sich ein paar Einheimische unter die Kunden des Supermarktes.

Anwohnerin: "Wir wollten nur kurz was zu trinken holen. Wir sind wieder umgekehrt und haben den Wagen weggebracht. Jetzt fahren wir noch woanders hin. Mal gucken, ob wir da noch was kriegen."

Eine Studie der Universität Chemnitz hat vor zwei Jahren untersucht, wie viel Geld das Melt-Festival in die Region rund um Dessau, Lutherstadt-Wittenberg und Gräfenhainichen bringt. Es sind 1,3 Millionen Euro. Zusätzlich zum Eintrittspreis gibt der durchschnittliche Besucher aus Deutschland um die 100 Euro aus. Leute aus dem Ausland legen noch fünfzig drauf. Hotels, Tankstellen und Gaststätten profitieren.

Tino Gawollek ist der Chef des Restaurants, direkt gegenüber vom Discounter. Dekoriert wie ein alter Bergbauschacht, erinnert das Lokal an die alten Zeiten in Gräfenhainichen. Zu DDR-Zeiten, als drüben im Revier noch Braunkohle gefördert wurde, lebten hier knapp 12.000 Menschen. Heute sind es 7.500. Tino Gawollek greift zu zwei großen Salattellern, will sie zu seinen Gästen bringen. Die zwanzig haben auf ihre Oberarme mit Filzstift Herzen gemalt. Seit Jahren profitiert das Restaurant vom Festival.

Gawollek: "Ja, wir haben eine extra Melt-Karte, die ist aus der Speisekarte ein bisschen zusammengefasst. Es steht dann gleich alles auch noch mal in Englisch drunter, dass man es nicht erst übersetzen braucht."

Die Salate sind abgeliefert. Tino Gawollek steht hinter seinem Tresen, macht eine resignierende Geste. Zwei große Festivals im Jahr sind schön, meint er, aber sie retten auch nicht die Region. Abwanderung, Überalterung, Langeweile – Montagabend steht das alles wieder im Vordergrund.

Gawollek: "Die Tourismussituation lässt nach. Es sind weniger Busgruppen. Früher waren es nicht unter fünfzig, heute sind es teilweise nicht unter zwanzig Leute pro Reisegruppe. Die Familienfeiern werden weniger. Das merkt man, wenn man dann von den Älteren dann mal als Letztes noch die Beerdigung dann hat."

Die Salatteller der mit Filzstiften bemalten Gäste sind aufgegessen, Timo Gawollek kassiert hab. Da kommt schon die nächste Gruppe zum Mittag. So schön stressig, sagt der Wirt, könnte es immer sein.



Ein Plattenlabel mit Yogalehrerin

Gernot: "Jetzt gehen wir mal zu einer Bühne, die wir seit seit Jahren gestalten und kuratieren. Das Problem ist, ich kann mich sehr schwer konzentrieren hier, weil man ständig Leute sieht, die mit einem in Kommunikation treten wollen. Also mal schnell weiter hier."

Szarzy: "Wir stehen jetzt an der Seite von der Melt-Selektor-Bühne, und was wir hören, ist Otto von Schirach aus Miami. Zu einer relativ frühen Spielzeit, ich glaube, wir haben es um 7 Uhr oder um 8.30 Uhr. Aber das macht er immer so. Das ist ziemlich geil, eigentlich eine Freakshow. Also, wir lieben ihn."

Gernot: "Wir können ja mal weitergucken, oder? Gehen wir mal wieder zurück. Das Schräge ist, das wir alle hier über zehn Ecken kennen, das ist total schräg. Zum Beispiel an dem Tisch da hinten, da sitzen sozusagen die Spielerfrauen. Das dürfen die jetzt nicht hören, sonst sind die sauer. Da ist Marit, die ist unsere Bürofee und Chefin von unserem Label und unsere Managerin, wenn man so will. Daneben sitzt Gesine, das ist die Yogalehrerin von Monkeytown. Wir sind, glaube ich, das einzige Plattenlabel, dass sich eine Yogalehrerin leistet. Ja und so geht das eigentlich die ganze Zeit. Dieser Bass ist ganz schön heftig, oder?"



Radeln für den Strom

Bei mir ist Philipp. Du bist für das Ganze hier verantwortlich. Was macht dieser Zug hier mitten auf dem Feld?

"Es ist alles im Rahmen des Melt-Festivals natürlich passiert. Es gibt halt dieses Angebot 'Bed and Wheels'. Das heißt halt, von Köln startet der Zug, und Du kannst halt einsteigen."

Zwölf Waggons lang ist dieser Zug. Siebenhundertfünfzig Menschen sind drin, so ein alter Zug aus den 80er-Jahren. Bordeauxrot mit weißen Streifen. In diesem Zug wird seit Donnerstag Party gemacht. Da ist der Zug losgefahren und hier nach Ferropolis gekommen, aufs Melt-Gelände – und bietet Behausung für ziemliche viele junge Leute, die nicht zelten gehen wollten.

Hier kommt schon mal die Reihe mit den ganzen Abteilen. Ich nehme an, das sind die Schlafabteile hier?

"Das sind alles Schlafabteile. Man kann halt die Sitzbänke – da sind sechs – die kann man halt umklappen und dann hat man drei Stockbetten übereinander. Also sechs Leute schlafen immer in einem Abteil hier."

Wird hier überhaupt geschlafen?

"Ja, zwischen morgens um fünf und zwölf ist es ein bisschen ruhiger. Im Moment schlafen hier auch noch Leute."

Die liegen hier gerade in ihren Kajüten. Ich gucke gerade mal rein – hier sind nur Unterwäschereste zu finden. Wir gehen mal in das erste Abteil. Platz 15, 13, 11. Darf ich ganz kurz stören? Wie ist Eure Zugfahrt bisher so abgelaufen?

Bewohnerin: "Gut. Wir haben mehr Komfort. Wir haben ein festes Dach, wir haben Pritschen. Pritschen sind wahrer Luxus, wenn man Luftmatratzen kennt. Wir sind relativ geschützt vor Insekten. Was auch ein definitiver Vorteil ist. Und lüften ist ein bisschen …, ne."

Dieser Raum ist wahnsinnig klein. Es gibt sechs Plätze und man darf nicht länger als 1,75 Meter sein oder, um hier drauf zu schlafen?

"Absolut richtig! Ich bin 1,83 und ich bin, wie Du gesagt hast, neun Zentimeter, wie auch immer, zu groß."

Entsteht so ein bisschen Lagerkoller? Wie kommt ihr hier auf diesem kleinen Platz so zurecht?

"Wir gehen unter den Zug, regelmäßig, und schatten uns dort. Und genießen die Freiheit."

750 Leute in einem Zug – das sorgt auf jeden Fall für etwas weniger Stau und CO2-Ausstoß beim Melt-Festival. Es gibt einige Versuche, umweltfreundlicher zu sein. Hier auf dem Zeltplatz, einen guten Kilometer vom Zug entfernt, strampeln einige Besucher auf Fahrrädern, damit es Strom für den DJ gibt.

Warum, bei diesen wahnsinnigen Temperaturen, strampelst Du Dir einen ab?

Besucherin: "Weil es Spaß macht! Weil man sonst nichts zu tun hat. Essen, baden, essen, baden, duschen, essen, chillen, strampeln."

Max, wie ist es, wenn Deine Arbeit nur so gewürdigt wird, dass wenn jemand nicht tritt, einfach niemand mehr was hört?

"Ja, es ist eine interessante Erfahrung. Solange wir hier drin die ganze Zeit was hören, haben wir ja Spaß. Für die Leute tut es mir ein bisschen leid."

Was ist denn der Zweck dieser Aktion?

"Die Festivals grüner machen. Und ich denke, es ist eine Werbeaktion."




Tanzen im Sand

Morgens kurz vor sechs Uhr. Der Sleepless Floor ist leer und still. Die Melt-Gänger liegen neben der Tanzfläche im Gras und starren in den dämmrigen Himmel oder auf den See. Am DJ-Pult steht Daniel Bortz.

Autorin: "Er tippt gerade auf dem iPhone noch ´ne letzte Nachricht, dass es jetzt losgeht? Wie willst Du die müde Meute jetzt noch zum Tanzen wegen?"

Bortz: "Die sind nicht müde. Los geht’s!"

Allmählich trotten ein paar der Leute an Bortz heran. Über der Bar steht geschrieben: "Alle Vögel sind schon da." Und tatsächlich kommen immer mehr vom Festivalgelände. Auf einer kleinen Anhöhe hinter der DJ-Kanzel beobachtet Tajo das Geschehen. Seine Füße und sein Basecap wippen im Takt.

Tajo: "Schön ist, wenn sich das so langsam füllt. Also als wir angekommen sind, waren hier so zehn, 20 Leute und jetzt sind es 150, 200 Leute. Und so nach und nach kommen dann alle hierher."

Das ist auch der Lage des Sleepless Floors zu verdanken. Denn hier muss jeder Melt-Besucher vorbei, wenn er zum Zeltplatz läuft. Momentan entscheiden sich 90 Prozent fürs Weitermachen.

Daniel Bortz spielt vor einer vollen Tanzfläche. Applaudiert wird selten. Wenn es dem Publikum gefällt, hebt es einfach beide Arme in die Luft.

Um 9 Uhr ist das Melt für Daniel Bortz vorbei. Er sieht müde aus. Noch schnell frühstücken, dann geht es nach Berlin zum Flughafen. Am Nachmittag geht es weiter zum nächsten Festival.

Am Rande der Tanzfläche nutzen die nächsten DJs die Chance, ihr Publikum kennenzulernen. Sie nicken zufrieden und verschwinden hinter der Bühne. Zeit für letzte Vorbereitungen. USB-Sticks, SD-Karten und Kopfhörer, Sonnenbrille - mehr brauchen sie nicht für den gut bezahlten Job am Baggersee. Ein vierstelliger Betrag, sagen sie, den die DJs heute in zwei Stunden verdienen:

Chopstick: "Man muss einfach sagen, man ist auch 48 Stunden unterwegs und nicht zu Hause. Darüber wollen wir uns nicht beschweren. Wir kommen da supergut klar. Aber es ist jetzt nicht so, wie viele denken: In zwei Stunden haben die ihre Kohle verdient, und dann gehen die schon wieder nach Hause."

Vor der Bühne feiert DJ Till von Sein, hält sich mit tanzen wach. Um 2.30 Uhr hat sein Wecker geklingelt. Von Dopen gegen die Müdigkeit hält er gar nichts. Auch wenn er es nicht nur der Hälfte des Publikums ansieht.

von Sein: "Ich persönlich bin dann der Freund von den Leuten, die wieder aufstehen. Mal ganz ehrlich, wenn Du hier um fünf ins Bett gehst, bei dem Wetter dann pennste nich länger als drei Stunden. Und bevor Du dann Dich aufm Zeltplatz in der Sonne rum aalst, dass Du dann herkommst, und Dich wieder lockermachst – auf so was hoff ich eher, als auf solche toten Zombies, die hier schon seit Donnerstag wach sind, wo Du einfach nur so totes Fleisch vor Dir hast."

Weitere Informationen:

Im Schatten der Schaufelbagger

Kohlebagger und Supermarkt

Erste Eindrücke vom Melt-Festival 2013

Die drei Deutschlandradio-Reporter Grit Lieder, Johannes Nichelmann und Axel Rahmlow berichten das ganze Wochenende vom Melt-Festival. Ein weiterer Beitrag ist am Sonntag, 21. Juli, geplant: um 23.05 Uhr im "Fazit".