Westdeutsche Beamtenelite nach 1949

Wie Altnazis und Mitläufer den neuen Staat aufbauten

08:18 Minuten
Bundeskanzler Konrad Adenauer und Staatssekretär Hans Globke im Gespräch. Aufgenommen im September 1963 in der italienischen Hauptstadt Rom.
Unter Konrad Adenauer (l.) war Hans Globke (r.) bis 1963 Chef des Bundeskanzleramts - obwohl er in der NS-Zeit einschlägig mitgewirkt hatte. © picture-alliance / dpa
Von Maximilian Brose · 02.11.2022
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Die Bonner Republik ist eine demokratische Erfolgsgeschichte. Erstaunlicherweise - denn an vielen Schalthebeln der Macht saßen Männer, die zuvor Hitler gedient hatten. Die Ausmaße dieses Problems haben die Historiker inzwischen gründlich erforscht.
Er hatte im Ersten Weltkrieg gedient und als Jurist in der Weimarer Republik eine Beamtenkarriere im preußischen Innenministerium gestartet. Den Höhepunkt seiner Karriere erreichte er ab 1953 in der Bonner Republik – als Chef des Bundeskanzleramts bis 1963 unter Konrad Adenauer.
Schon damals war er hochumstritten: weil Hans Globke nicht als demokratisch gesonnener Jurist der Weimarer Zeit, sondern als Jurist in der NS-Zeit einschlägig gewirkt hatte. 
„Da hat er entscheidend die Frage beantwortet: Wer darf zur NS-Volksgemeinschaft zur Mehrheitsbevölkerung dazugehören? Und wer soll diskriminiert werden? Und das sind wichtige Fragen, die dann, insbesondere während des Zweiten Weltkriegs, dann damit zusammenhängen, wer verfolgt, wer ermordet worden ist“, sagt der Münchner Historiker Gunnar Take und spitzt in seinem Vortrag zu:
„Ohne Funktionsträger wie Globke hätten die nationalsozialistischen Völkermorde in dieser Form nicht stattfinden können.“

Hohe Kontinuitäten in der Beamtenelite

Globke war einer von insgesamt 107 höheren Beamten im Bundeskanzleramt zwischen 1950 und 1960. Alle männlich – 70 Prozent Juristen. Wie viele Mitläufer oder systemtragend im Naziregime waren, hat Gunnar Take in seinem mehrjährigen Forschungsprojekt untersucht.
„Die Belastung im Bundeskanzleramt ist recht hoch, wenn wir uns anschauen, was diese Personen im Nationalsozialismus tatsächlich gemacht haben, wo sie in Reichsministerien tätig waren.“
Über personelle Kontinuitäten von der Beamtenelite des Hitlerreiches bis in den Regierungsapparat der Bundesrepublik ist jahrzehntelang gestritten worden. Inzwischen ist diese NS-Belastung der frühen Bundesrepublik von der Geschichtswissenschaft systematisch erforscht worden.

Keine Personen mit jüdischer Herkunft

Im Kanzleramt der frühen Bundesrepublik, in dem Globke entscheidenden Einfluss auf die Personalpolitik hatte, hat fast jeder fünfte zuvor im Naziregime als Wehrmachtsoffizier, höherer Beamter oder Besatzungsakteur gearbeitet. Als resistent gegen die NS-Diktatur gelten nur drei der 107 Spitzenbeamten. Personen, die sich heimlich gegen die NS-Diktatur gerichtet hatten, sucht man vergebens in den oberen Rängen des Kanzleramtspersonals.
„Wer auch nicht vertreten ist, sind Personen, zum Beispiel jüdisch-stämmiger Herkunft, die emigriert sind und dann 1945 zurückkehren, um am demokratischen Wiederaufbau zu helfen und schließlich Akteure der Arbeiterbewegung, des antifaschistischen Widerstands, also des linken politischen Spektrums. Auch die sind bis 1969 im höheren Beamtenstab des Kanzleramts überhaupt nicht vertreten.“

Viele BMI-Beamte mit NSDAP-Mitgliedschaft

Das Kanzleramt war unter Adenauer nicht nur Schaltzentrale seiner Machtausübung. Es hat auch festgelegt, über welche Fragen, wann in den Ministerien diskutiert wurde. Wenn die unliebsames Personal einstellen wollten, konnte das Bundeskanzleramt blockieren. Eine neue Analyse zu den anderen Bonner Bundesministerien wie etwa das BMI, das Innenministerium, haben Folgendes ergeben:
„Das BMI, und das zeigt sich auch in anderen Studien, fällt hier stark auf tatsächlich und hat eine vergleichsweise hohe NSDAP-Mitgliedschaft, genauso wie das Wirtschaftsministerium, das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft und das Auswärtige Amt.“

Arbeitserfahrung schlägt politische Kriterien

Stefanie Vetter von der Uni Kassel hat mit anderen Forschenden anhand großer Datensätze untersucht, wie sich die Beamtenschaft in Weimar, unter Hitler und in Bonn verändert hat. In den Anfangsjahren der Bundesrepublik habe man vor allem seine Beamten ausgewählt frei nach dem Motto: „Wir müssen die Organisation am Laufen halten. Deshalb brauchen wir Leute, die passende Arbeitserfahrung und passendes Fachwissen haben. Und aus diesem Grund tritt das politische Kriterium, die politischen Bezüge, in den Hintergrund“, sagt Stefanie Vetter.
Damit rückten auch viele frühere NS-Beamte in die Amtsstuben der neu gegründeten Bundesrepublik ein. Die Situation erinnert an die Weimarer Republik nach der Novemberrevolution 1918. Auch damals waren die Kontinuitäten in der Beamtenschaft groß. Mit dem Ergebnis, dass die Republik in den Behörden viel zu wenig Unterstützung hatte. Das Erstaunliche in der Bonner Republik war, dass sich die Demokratie trotz der problematischen personellen Kontinuitäten entwickelte.

Demokratieerfahrung aus der Weimarer Republik

Stefanie Vetter nennt als häufig angeführten Grund, dass man sich auf die Weimarer Republik zurückbesinnen konnte.
„Und auch wenn die Zeit der Weimarer Republik sehr kurz war und eben durch politische Instabilität geprägt, gab es zumindest irgendwie geartete Erfahrungen mit Demokratie. Auch mit einem demokratischen Staatsaufbau. Und darauf konnte zurückgegriffen werden. Oder zumindest war es ein sehr verbreitetes Argument, auf das rekurriert wurde, wenn auch über die Einsetzung von Beamten mit NS-Vergangenheit gesprochen wurde.“
Gunnar Take betont, dass im Zuge der Entnazifizierung viele belastete Beamte zunächst ihren Job verloren. Und damit eine prekäre Zeit durchlebten, bis sie ihren Weg zurück in die Behörden fanden. „Was viele dieser Personen, die aus der gehobenen bürgerlichen Schicht stammen, überhaupt nicht gewohnt sind. Also das ist ein Schock. Und ich glaube, dieser Schock diszipliniert.“

Demokratisierung aus eigener Kraft

Der radikale Bruch nach Kriegsende habe überhaupt erst möglich gemacht, dass Deutschland eine Demokratie werden konnte, sagt Annette Weinke. Für die Jenaer Geschichtsprofessorin markiert das Ende des Nazi-Regimes nicht nur eine militärische Niederlage, wie sie am Ende anderer Diktaturen steht, „sondern es ist ja eigentlich das Ende deutscher Staatlichkeit. Zunächst die Errichtung eines Besatzungsregimes und damit verbunden ein sehr, sehr umfangreiches Programm einerseits der Strafverfolgung, der Internierung, aber auch der politischen Überprüfung und der sogenannten Operation Re-Education.“
Die sei aber kein durchgängiges Erfolgsprojekt gewesen. Gerade während der Entnazifizierung habe die große Aufgeschlossenheit der Westdeutschen gegen die Westalliierten deutlich abgenommen.
„Und dann kann man sagen, dass die Anfangsjahre der Bundesrepublik dadurch geprägt waren, dass man eben durchaus zeigen wollte: Wir schaffen das aus eigener Kraft. Wir brauchen die Westalliierten nicht. Also das, was ihr uns hier vorgeführt habt, das ist eigentlich nicht vereinbar mit Demokratie“, sagt Annette Weinke.

NS-Belastete mussten sich neu erfinden

Die Demokratisierung aus eigener Kraft habe auch davon profitiert, dass NS-belastete Beamte sich ein Stück weit neu erfinden konnten. Oder mussten, denn die Demokratisierung sei alternativlos gewesen, betont Martin Sabrow, langjähriger Leiter des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam:
„Die Bevölkerung blieb dieselbe, auch wenn sie dezimiert war, auch wenn sie durch ein eigenes Säurebad gegangen ist. Zum anderen war der internationale Kontext der westlichen Zivilisation natürlich stark genug, um einen Neuanfang zu starten.“

Ehemalige Nazis besonders loyal?

Für den Mit-Leiter des Großforschungsprojekts ist die Erforschung der NS-Kontinuitäten in den westdeutschen Behörden an einem Punkt angelangt, an dem die reine „Nazi-Zählerei“ nicht mehr weiterführe.
„Wir haben sogar gelernt, dass die Gründung der Bundesrepublik, oder ihre Entwicklung, nicht zuletzt mit Hilfe von ehemaligen Nazis erfolgreich war, die bereit waren, dem neuen Staatswesen zu dienen, ihm oft sogar Modernisierungsimpulse gegeben haben oder auch leichter lenkbar waren, weil ihre Loyalität jetzt dem neuen Staat in besonderer Weise galt, um die eigene Belastung aufzuheben.“
Nur eine von mehreren Erkenntnissen der Konferenz, die zeigt: In der Forschung ist die Bestandsaufnahme der NS-Belastung westdeutscher Behörden praktisch abgeschlossen. Und die Phase der geschichtlichen Einordnung ihrer Ergebnisse hat begonnen. Wie trotz der historischen Erblasten die Demokratisierung der Bonner Republik gelingen konnte, ist eine Frage, die dabei in den Vordergrund rückt.

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