Bayrisches Dorf trotzt Veränderung

Die Heimat verkauft man nicht

29:33 Minuten
Auf einer Bühne sitzen Musiker in traditioneller Kleidung und Blaskapelle-Fähnchen.
775-Jahrfeier in Schlagenhofen: Die Bewohner sind stolz auf ihre lange Dorfgeschichte. © Lutz Homann
Von Lutz Homann · 03.07.2019
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Schlagenhofen liegt am Ammersee. Es könnte ein attraktives Siedlungsgebiet für Wohlhabende aus dem nahen München sein. Doch das kleine Dorf versucht, sein Eigenleben gegen diese Entwicklung zu verteidigen. Unser Autor kennt den Ort seit seiner Kindheit.
"Ich kann schon in die Stadt gehen und da vielleicht Urlaub machen oder mir was anschauen oder so, aber dass ich da jetzt für einen längeren Zeitraum leben könnte, kann ich mir nicht vorstellen."
"Ich kenn’ jeden Frosch und jeden Stein mit Handschlag, gell."
"Jetzt fahren nur noch zwei durch mit dem Bulldog wie die Verrückten und das ist alles, gell."
"Der Gemeinde geht’s gut. Also uns geht’s nicht schlecht."
"Ja, das mit der Landwirtschaft, das ist eigentlich schon so eine Art Lebenstraum, den ich mir erfüllt habe."
"Weißt du, wann bei mir die Lichter ausgehen? Um neun Uhr. Um neun Uhr bin ich im Bett!"
Schlagenhofen. Nur eine Straße führt durch das kleine bayerische Dorf am Ammersee, links und rechts ein paar Stichwege und dann kommt schon das Ortsausgangsschild. Die Zahl der Menschen, die Zahl der Häuser: alles sehr überschaubar. Aber nicht ereignislos: Das Dorf plant eine große Feier. 775-jähriges Bestehen.
Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. In der großen Scheune in der Mitte des Dorfes wird die Bühne und die Bar aufgebaut. Es wird Musik geben, Reden, Ehrungen und natürlich Essen und Trinken.
"Urkundliche Erwähnung, das heißt, der Ort ist viel älter. Die älteste urkundliche Erwähnung ist eine Besitzbeschreibung des Klosters Dießen, und da taucht das Drexl-Anwesen auf – 1242. Aber, und da sind wir sehr stolz drauf, wir haben ein neolithisches, also jungsteinzeitliches Steinbeil hier in diesem Dorf gefunden. Und das waren früher Prunkgegenstände."
Robert ist pensionierter Geschichtslehrer. Seine freie Zeit als Rentner nutzt er für umfangreiche historische Recherchen. Robert kann viel erzählen über die Landesgeschichte, über die Geschichte der Bauern und natürlich auch über die Geschichte seines Dorfes.
"Es ist mindestens seit dem 13. Jahrhundert kein bäuerliches Anwesen dazugekommen und auch keins abgegangen."

Eine postkartenhafte Freizeitlandschaft

Schlagenhofen liegt in der Gemeinde Inning und gehört zum Landkreis Starnberg, der auf Platz 1 der Liste des verfügbaren Pro-Kopf-Einkommens steht. Das wundert nicht, denn der Landkreis hat nicht nur eine postkartenhafte Freizeitlandschaft mit vielen Seen zu bieten, er lockt dazu mit der Nähe der Alpen, dem guten Wetter und mit der Metropole, in der man das Geld verdienen und sich sehen lassen kann, mit München. Hier im Landkreis leben viele Schöne und Reiche und Berühmte.
"Die Helene Fischer, der Hirmer zum Beispiel, der dieses Fußballcamp für die Nationalmannschaft in Brasilien gemacht hat, der Baselitz, die ziehen natürlich ein gewisses Klientel her, sind auch sehr viele reiche Leute. Die sind halt mit Hecke und alles und die leben halt ihr Leben da unten."
Hubert sitzt für die Schlagenhofener im Gemeinderat. Da unten ist der See und dort liegen auch die lukrativsten Grundstücke. Schlagenhofen liegt in der hügeligen Landschaft eingebettet. Zum See geht es nach dem Ortsschild noch etwas bergauf und dann die schmale Straße steil bergab. Aus der Vogelperspektive wird deutlich, wie sehr sich das Dorf von den umliegenden Ortschaften mit ihren raumgreifenden, ausgefransten Rändern unterscheidet. Schlagenhofen ist übersichtlich und klar begrenzt geblieben.
"Ja weil wir eigentlich eines der letzten Haufendörfer sind hier in Oberbayern oder Bayern. Die Bauernhöfe haben sich damals um die Kirche gebildet und sind nicht ausgesiedelt. Das ist eigentlich alles recht am Ort geblieben.

Das Dorf will überschaubar bleiben

Das Dorf will ein überschaubares Dorf bleiben. Aber die Entscheidungen, auch über die Bebauung, werden heute nicht mehr im Dorf getroffen, sondern im Gemeinderat in Inning.
"Der Flächennutzungsplan hier in Schlagenhofen ist sehr eng um den Ort gelegt", sagt Hubert. "Es fahren immer wieder welche durch und fragen oder hängen unten einen Zettel hin: ,Wir suchen Wohnungen, wir suchen Gebäude, wir suchen Häuser.‘ Aber es wird halt nichts verkauft.
Wir haben ja immer noch aktive Landwirte, die die Flächen benutzen und wenn wir hier sagen: ,Wir wollen den Ort vergrößern‘, müsste der ganze Flächennutzungsplan einfach erweitert werden. Es ist sehr viel Landschaftsschutz um Schlagenhofen rum. Das müsste alles geändert werden, und dann ist aber die Struktur kaputt."
Robert Volkmann sitzt in seinem Zimmer und erzählt gestikulierend.
Die größten Bauern in Schlagenhofen hätten ihre Grundstücke einfach nicht verkauft, sagt Robert.© Lutz Homann
"In den Nachbarorten haben wir in den letzten Jahrzehnten Folgendes gehabt: dass viele Bauern aufgehört haben, und sie haben Grundstücke verkauft und haben das dadurch gewonnene Geld sehr, sehr häufig nicht gut angelegt, geschweige denn vermehrt. Nein, da ist viel verloren gegangen", sagt Robert.
"Und in Schlagenhofen haben wir die Situation in den letzten Jahren, das hat sich ja rumgesprochen, zum Teil sind sie befreundet, zum Teil sind sie auch verwandt und der größte Bauer hier, dem das meiste gehört, der hat grundsätzlich keine Grundstücke verkauft. Und der zweitgrößte, der Painhofer, der hat nie irgendein Grundstück verkauft. Und dann ist natürlich die Möglichkeit von Zuzug entsprechend gering."
Dorfbewohner:
"Ich bin seit fast 20 Jahren in Schlagenhofen drin."
"Seit 61 Jahren in Schlagenhofen."
"Seit meiner Geburt 1959."
"Seit Januar 1974."
"Ich wohn‘ seit 68 Jahren in diesem Dorf und älter bin ich nicht."
"Habe fast mein ganzes Leben in Schlagenhofen gewohnt. Ich war nur mal zusammen dreieinhalb Jahre weg."
Ein Dorf, das bei sich bleiben will - inmitten einer sich stark verändernden Welt. In den Nachbarorten haben sich die gewachsenen Dorfstrukturen längst aufgelöst. Nicht so in Schlagenhofen.

"Ein Gen, das uns rät, Fremde nicht aufzunehmen"

Wolfgang Kaschuba ist Volkskundler und befasst sich mit der Erforschung von nationalen und ethnischen Identitäten und somit auch mit dem Thema Heimat. Er blickt von außen auf das Phänomen dörflicher Gemeinschaften, in denen der Heimatgedanke tief verwurzelt ist.
"Zunächst einmal gilt für die Dorfgesellschaft das historische Prinzip: Zusammenhalten, trotz aller Konflikte, die es intern natürlich gibt. Und zweitens fremdenfeindlich sein. Über zwanzig oder hundert Generationen mussten natürlich alle bäuerlichen Gesellschaften lernen, dass die Äcker und die Häuser und die Weiden nicht beliebig vermehrbar sind. Insofern haben wir alle – anthropogen gesprochen – ein Gen, das uns rät, Fremde nicht aufzunehmen. Deswegen haben wir dann kulturell dagegen entwickelt: die Gastrolle; dass wir dann sagen: ‚Du bist Gast, Du wirst von uns auch freundlich und respektvoll behandelt. Aber bitte bleib nicht.‘
Und erst in den letzten 200 Jahren können wir uns ja im Grunde genommen leisten, mit der Vermehrung der Ressourcen eben über Industrie und Kapitalismus, dass wir diese rigide Haltung gegenüber Fremden und Zuzug auflockern können oder sogar ganz verändern können. Das ist die Geschichte der modernen Städte, die davon profitieren, dass sie Fremde aufnehmen können, die bleiben. Und das gilt natürlich inzwischen längst auch für viele Dörfer. Aber in den Dörfern ist natürlich so etwas wie dieser historische und kulturelle Überbau sehr viel stärker."
Wir und die anderen: das Thema, das im Zuge der Globalisierung fast alle umtreibt, ob im Dorf, in der Stadt, in Deutschland oder in anderen Ländern – dieses Thema hat im Dorf sein eigenes Gesicht und kann dort in seinen anthropologischen Dimensionen studiert werden. Auch in seiner Widersprüchlichkeit: denn natürlich bleibt keine Gemeinschaft unter sich, auch nicht im bayerischen Dorf Schlagenhofen.
Der Greve kommt aus Berlin. Der Wikelski Heinz, der kommt aus Bremen. Meine Frau kommt aus Göttingen. Der Helmut Albert war aus Sachsen. Der Horst Kahl, der war aus dem Sudetenland. Die Aumüller Heli, das ist ein Flüchtlingskind auch, hat in einen Bauernhof eingeheiratet", zählt Robert auf.
Hubert steht auf der Bühne und spricht ins Mikrofon.
Als Vorsitzender des Planungskomitees eröffnet Hubert das Fest.© Lutz Homann
"Liebe Gäste, Schlagenhofen begrüßt Euch ganz, ganz herzlich zu seinem 775-jährigen Jubiläum. Ihr seht es ja, 750 Jahre haben wir 1992 gefeiert", sagt Hubert. "Der Stil ist ganz anders jetzt, ganz modern. Wir haben also viele junge Leute dabeigehabt, die mitorganisiert haben. Ganz herzlich begrüßen möchte ich unseren ersten Bürgermeister, den Walter Bleimaier von der Gemeinde Inning."
Als Vorsitzender des Planungskomitees eröffnet Hubert das Fest. Das Bierfass ist angestochen, die Sonne lacht, das Publikum erwartet die Darbietungen und hält sich kulinarisch bei Laune.

Eine Zugezogene in der Dorfgemeinschaft

Das Fest findet auf dem Sieberhof statt. Seit 2003 ist er der einzige Vollerwerbshof in Schlagenhofen. In der geräumigen Bauernstube hat monatelang das Festkomitee getagt und nun sitzt mir Sybille Wörner-Siebert mit ihrem Sohn und ihrem jetzigen Lebenspartner gegenüber. Sie ist ein Gast, der geblieben ist.
"Also wir waren in den Ferien immer am Tegernsee, da haben meine Eltern eine Wohnung gemietet auf dem Bauernhof und da sind wir jede Ferien hinverschachtelt worden. Entweder mit Kindermädchen oder ohne oder mit meinen Eltern, und da waren wir bei die Bauernbuben und im Gebirge und weiß der Teufel was. Und irgendwie habe ich das in der Großstadt dann vermisst, dieses freie Leben, und habe mir auch während der Schulzeit gedacht, dass ich eigentlich gerne auf dem Land was machen würde.
Und dann habe ich gesagt: ,Jetzt mache ich erst mal Praktikum, weil das braucht man ja auch für das Studium, und dann schaue ich, ob ich dann wieder weiterstudiere‘. Und dann habe ich mich halt hier beworben und gleich einen Praktikumsplatz gekriegt und dann habe ich mich in den Betriebsleiter verliebt und seitdem bin ich da."
Und sie gehört nun zur Dorfgemeinschaft dazu. Eine, die gezogen ist.
"Die Konjunktur von Zeitschriften, Magazinen, Fernseh-Sendungen, die diese Flucht aufs Land beschreiben, zeigt ja, dass es gegen diesen großen Strom in die attraktiven, urbanen Lebenswelten eben auch immer eine kleine Gegenbewegung gibt und auch immer gegeben hat, die das Dorfleben gerade in dieser traditionellen Form lobt", sagt Kaschuba.
"Und gerade in Deutschland hat das ja auch eine überaus feste Form. Es gibt ja in keiner anderen europäischen Gesellschaft, gerade auch in den kleinen Gemeinden, so viele lokale Vereine, die dieses Leben auf dem Dorf in seinen Formen halten. Den Schützenverein und den Gesangverein und den Sportverein. Und viele sind in allen drei Vereinen. Also man ist dann im Grunde genommen in einer sehr engen Welt, die wärmt, aber natürlich auch unter Umständen fesselt."

Schlagenhofen – kein Ort für abstrakte Sehnsüchte

Der große Strom fließt in die Stadt. Ein kleiner ins Dorf. Für Sybille war Schlagenhofen kein Ort für abstrakte Sehnsüchte. Hier konnte sie Landwirtin werden.
"Wir sind jetzt immer zu zweit im Stall und so, wie es halt jetzt ist, es steht gut da, sag ich mal, aber für einen landwirtschaftlichen Betrieb sind wir zu klein. Jedes Amt sagt dir: ,Über 70 Kühe auf jeden Fall.‘ Also 100 Kühe sind so der Standard, den du haben musst, dass du rentabel wirtschaftest, und wir haben ja nur 60.
Wir kommen auch rum, wobei ich natürlich schon sagen muss, wir kommen nicht nur wegen der Landwirtschaft rum, sondern, ich habe halt da drüben vermietet und ich habe da oben noch eine Ferienwohnung, die ständig vermietet ist und am See unten die Wirtschaft. Das sind natürlich schon Einnahmequellen, wo ich mich jahrelang gut über Wasser hab’ halten können und meinen Kindern zum Beispiel nicht nur die Hauptschule, sondern auch das Gymnasium ermöglichen konnte."
"Wenn wir unsere Studierenden hier in Berlin fragen, warum sie nach Berlin kommen, dann sagen sie genau das: ‚Hier kann ich sein und tun was ich will.‘ Und das bedeutet, das Wollen ist ganz wichtig, aber auch das breite Angebot ist ganz wichtig", sagt Kaschuba.
"Aber gleichzeitig wissen sie natürlich, dass diese Freiheit ihre Kosten hat. Dass es mit Risiken und Unsicherheiten verbunden ist. Die große Freiheit kann eben auch enden in der sozialen Isolation, enden in der Depression, weil nicht selbstverständlich Alltagssituationen entstehen, in denen ich mit anderen kommuniziere, indem ich mit anderen interagiere, also mit denen etwas zusammen mache. Die Stadt lässt einen in Ruhe."
In einem Dorf wie Schlagenhofen wird man nicht so in Ruhe gelassen.
"Es kommen ständig Leute, die einem Tipps geben, wie man hier auf einen grünen Zweig kommt", sagt Sybille. "Und das finde ich wahnsinnig interessant, weil ich sage auch zu meinen Geschwistern immer: ,Habe ich dir schon mal reingeredet als Jurist oder so, wie du was besser machen könntest? Würde mir im Traum nicht einfallen.‘ Aber in der Landwirtschaft, dadurch, dass das alles offen daliegt, meint jeder, er kann irgendeine Betriebsberatung geben.
Der typische Tipp ist Hofladen. Und dann sage ich: ,Ja, dann gehe ich jetzt acht Stunden in meinen Kuhstall. Dann hab ich mindestens noch fünf, sechs Stunden für meinen Hofladen. Und dann habe ich noch eine Familie. Und dann noch einen Haushalt. Und was ist dann?‘
Das Gute ist, dass ich durch Kindergarten und Grundschule schon immer viel Kontakt hatte zu dieser Denkweise hier, die so außen rum sitzt. Das sind diese Breitbrunner Dämchen, die am See sitzen in einem Riesengrundstück und dann vielleicht mal in den Hofladen gehen und dann passt ihnen was nicht.
Das ist ja auch wieder ein ganz anderes Publikum, als ich von der Stadt her gewohnt bin. Das war eher handfester, sage ich mal, bürgerlich, und das ist jetzt alles so… schnell nach oben gekommen, und da bist du… schnell wirst du hochgejubelt, aber du fällst auch schnell wieder irgendwie aus dem Raster raus."

Individualität auf dem Dorf?

"Wir haben Dorfstudien gemacht, um genau dahinter zu kommen, zu fragen, wie entwickelt sich die Individualität auf dem Dorf. Die Dörfer tendieren, tendierten damals zumindest dazu, dass der Familienname dominierte", sagt Kaschuba. "Es war dann eben Müller Komma Josef, Müller Komma Johanna und die Zuordnung und Erkennung läuft eben auch so: Ach, das ist ja die Tochter vom Karle. Also nicht, es ist die Einzelperson und da gibt es noch den Vater, sondern, das ist die Tochter, das ist der Sohn von."
Auch der Vertreter vom Bauernverband spricht auf dem Fest.
"Ja, meine Damen und Herren, ich habe also heute die Ehre, anlässlich der 775-Jahrfeier von Schlagenhofen der Frau Wörner-Sieber diese Urkunde zu überreichen. Und zwar ist die vom bayrischen Bauernverband und wird nur an alte Bauerngeschlechter übergeben. In diesem Falle ist es so, dass der (Sieberhof) das erste Mal 1609 erwähnt worden ist und…"
Auf der Bühne stehen Frauen und Männer in traditioneller Kleidung, auf einem Stuhl ein Bierfass.
Der Schlagenhofener Bürgermeister am Fass - und Dorfbewohner in traditioneller Kleidung.© Lutz Homann
Das Stadtkind Sybille steht jetzt im Dorf auf der Bühne und ihr Doppelname ist ein Zeichen, dass sie nicht nur die Frau vom Sieber ist. Sie steht neben ihren Schwägerinnen und Kindern und wird gleich die Urkunde des Vertreters vom Bauernverband in Empfang nehmen.
Vielleicht wundert sie sich ein bisschen über den Lauf der Dinge; dass sie es ist, die die Tradition eines 400-jährigen Hofes aufrecht erhält. Aber das hat seinen Grund: Denn sie hält sich an eine Regel, die den Bewohnern dieses Dorfes heilig ist, weil sie verhindert, dass das Dorf ausfransen würde wie andere Dörfer und dadurch sein Eigenleben verlöre. Sie verkauft ihr Land nicht, sondern verpachtet es nur, um den Familienbetrieb am Leben zu erhalten, gegen alle Schwierigkeiten der Zeit. Und wenn sie auch nicht weiß, wie lange diese Tradition halten wird, weiß sie doch genau, warum sie so lebt.
"Ich mach’s halt mehr oder weniger schon aus Idealismus. Und – ja – es hat natürlich auch noch andere Gründe. Es ist natürlich so eine Art Vermächtnis von meinem Mann, der gestorben ist. Zuerst kriegt man die verschiedenen Tipps von sämtlichen Verwandtschaften. Die eine hat gesagt, ich muss mich jetzt schmücken und sofort nach einem neuen Mann umschauen.
Meine Verwandtschaft hat gesagt: ,Verkauf doch das Zeug. Hau doch alles raus!‘ Und dann kommt irgendwie von innen doch die Wut, dass man sich denkt, ich habe das jetzt alles aufgebaut mit meinem Mann und jetzt einfach alles hinschmeißen, das kann es ja auch nicht sein. Es läuft ja alles einigermaßen. Und natürlich auch so ein: ,Jetzt zeig ich’s euch!‘
Du musst dir vorstellen: Diese Nachbarbetriebe, die haben ja alle gelauert, dass ich hinschmeiße, dass sie sofort Zugriff auf Felder, Wiesen, Äcker... und: ,Ja, jetzt siehst du es, die kommt halt doch aus der Stadt!‘ Was dann sofort geredet wird. Da habe ich eigentlich schon den Ehrgeiz gehabt, dass ich es denen ein bisschen zeige. Und ich muss jetzt sagen, rund um mich herum – seit der Zeit eigentlich – hat alles aufgehört mit den Kühen. Zwischen hier und Inning gibt es keine Kuh mehr. Das sehe ich schon als einen persönlichen Erfolg, muss ich sagen, dass ich es denen schon gezeigt habe. Aber davon kann ich auch nicht abbeißen."

Eine Städterin leitet den einzigen Vollerwerbshof

"Dass es heute eine Städterin ist, die als Frau den einzigen Vollerwerbshof noch führt", bemerkt Kaschuba. "Das ist zwar nicht ganz ungewöhnlich, aber für das Dorfbild natürlich trotzdem eine Sensation und wenn sie sagt: ‚Denen zeige ich’s‘, dann könnte heute auch eine Situation eintreten, wo die anderen sagen: ‚Ja, jetzt hat sie es uns auch gezeigt, die kann das.‘ Und jetzt haben wir hier ein Dorf, wo wir dann sagen können: ‚Das ist eine Bäuerin!‘ Wir sind im Grunde genommen dann ja wieder ganz fortschrittlich, weil, da kann man ja sehen, keine Vorurteile, keine Gender-Gaps, wir pflegen Traditionen, aber auf eine sehr spätmoderne Art und Weise."
"So jetzt. Rauf geht’s . Utti! Geh weiter, komm! Penelope! Susel!"
Utti, Penelope, Susel, Sara … So heißen die Kühe, die Andi Drexl jeden Abend vom Feld holt. Offensichtlich müssen sie einzeln aufgerufen werden, damit sie sich zurück in den Stall aufmachen.
"Hermine! Das ist die Chefin. Sara! Und die ist schon 14 Jahre. Aber die kriegt den letzten Sommer vor dem Metzger. Aber 14 Jahre sind ein gutes Alter. So alt wird normal keine Kuh."
"Die kann man noch essen?"
"Ja, ja. Die werden verwurstet. Die wird komplett verwertet. Auf geht’s! Das ist eine Allgäuer, darum Susel."
Der Stall vom Andi Drexl liegt gleich gegenüber vom Sieberhof. Seine Kühe grasen auch für Sybille gewissermaßen außer Konkurrenz. Sie sind nur Andis Hobby.
"Ein arbeitsreiches Hobby! Und vielleicht auch, um die alten Traditionen etwas aufrechtzuerhalten."
"Diesen großen Rucksack von Verpflichtungen zu erkennen und möglicherweise auch zu übernehmen: ‚Ja, das trag ich so!‘, und damit erfüllt man dann Erwartungen der Eltern möglicherweise, erfüllt Erwartungen der Dorföffentlichkeit, die natürlich auch lieber sieht, wenn jemand so eine Feierabendwirtschaft aufrechterhält", erklärt Kaschuba. "Das ist einfach die Tradition, dass dieses Land genutzt werden muss. Dass in diesem Land Kultur steckt, also die Arbeit der Vorfahren steckt und das nun weitergeführt werden muss."

Kinderbesuch, der beim Melken zuschaut

Auf jeden Fall bereitet Andi anderen eine Freude. Der Kinderbesuch im Dorf wartet schon und will beim Melken zuschauen.
"Enno, Servus. Ihr schaut beim Melken zu, jawohl. Magst du eine frische Milch, Bube? Ob du eine frische Milch möchtest?" – "Nö." – "Nö? Die schmeckt gut!"
"Also morgens fange ich um viertel nach fünf an, jeden Tag und am Abend eigentlich auch. Viertel nach fünf, halb sechs."
"Hast du immer Lust dazu?"
"Nein, immer habe ich keine Lust", lacht Andi. "Aber trotzdem mache ich es. Ist auch Gewohnheit. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Wenn wir Ernte hatten – wir sind ja vier Brüder – da haben wir schon alle zusammenarbeiten müssen.
Aber Kuhstall ist nicht jedermanns Wetter. Es gibt wenig Männer, die melken. Wenn ich an meine Mama denke, da hat immer nur meine Mutter gemolken, gell. Du musst ja jeden Tag zweimal. Morgens, abends, jahrein, jahraus und wir hatten ja vierzehn Kühe, dreizehn Kühe. Und für eine Frau jeden Tag, das ist schon eine schwere Arbeit. Mein Papa, der hat vielleicht im Jahr fünf, acht Tage gemolken. Den Rest hat die Mama gemacht. Entweder du machst es gern, oder du machst es nicht gern."
Jeden Morgen kurz nach fünf aus dem Bett, jeden Abend die Kühe von der Weide holen, melken, den Stall säubern; all das nach getaner Arbeit. Nötig hat er es nicht. Sein Geld verdient er mit etwas ganz anderem. Andi ist Dachdecker.
"Dachstühle, Außenfassaden mit Dämmung in Holz, Gartenzäune, Parkettboden, Innenausbau, Dachflächenfenster. Wir gehen gut. Arbeiten kannst du. Bei uns, da leben ja viele Gespickte. Schickeria."
"Wenn dieser Dachdecker sagt, er will das weiterhin so machen, ist es natürlich auch eine Form der Selbstausbeutung über lange Arbeitszeiten, über viel tun", sagt Kaschuba. "Aber möglicherweise auch mit einem besonderen Ertrag, also dass es eben nicht nur auf das Geld-Einkommen ankommt, sondern eben auch auf diesen Besitz, der dann den Kindern übergeben werden kann. Auch darin kann man natürlich Selbstverwirklichung sehen. Die einen wollen eben den Club und die Oper um die Ecke haben und die anderen vielleicht die Selbstverwirklichung im Kuhstall. Das meine ich jetzt gar nicht ironisch."
Andis Eltern leben im angrenzenden Gebäude in gewohnter Umgebung. Was im urbanen Umfeld als attraktives Modell des Mehrgenerationen-Wohnens immer populärer wird, nennt Andi die Altenteiler. Für ihn ist das selbstverständlich.

Definition von Heimat

Die Zukunft seines Sohnes ist noch ungewiss. Obwohl: Er besitzt acht Spielzeugtrecker.
Gibt es eigentlich eine Definition von Heimat?
"Wir brauchen einen Raumbezug und wir brauchen einen Gruppenbezug", sagt Kaschuba. "Wenn wir keinen Raum haben, haben wir im Grunde genommen auch nicht die Vorstellung der Zugehörigkeit und der Entfaltungsmöglichkeiten von uns selber. Und wenn wir keinen Gruppenbezug haben, haben wir kein Echo. Da kommt nichts zurück. Da rufen wir sozusagen in leere Räume rein.
Und Heimat stellt immer die Frage nach räumlichen Bezügen und nach sozialen Bezügen. Und die Antworten sind immer stärker in Richtung soziale Bezüge gegangen. Heimat ist sozusagen die Umgebung in sozialer Hinsicht. Die Menschen, mit denen ich kommuniziere, bei denen ich mich sicher fühlen kann, bei denen ich mich aufgehoben fühlen kann…
Und wir sehen aber in den letzten Jahren, dass der Raum-Bezug auch wieder stärker wird. Die Dorfgesellschaften bestätigen und verweisen stärker auf ihre Territorialität. Wir sind hier. Wir waren schon lange hier, wir haben eine bestimmte Art des Umgangs mit Landschaft, wir haben eine bestimmte Art des Umgangs mit Ökologie und anderes mehr.
Das andere ist aber natürlich der Freiheitsbegriff, der darin steckt. Und der Freiheitsbegriff meint, dass Heimat ja eigentlich nur sein kann, dort wo ich mich auch entfalten kann, nicht wo ich aufgehoben bin. Das ist die Legehenne auch. Und die Heimat kann natürlich so eine Legebatterie sein. Wenn ich in den nächsten Käfig gesperrt werde, wie meine Eltern auch schon und gefälligst den Anforderungen dieser Heimatwelt nachkomme."
Steg mit Schilf am Wörthsee in Schlagenhofen im bayrischen Inning
"Das ist kein Wohnort, das ist ein Lebensgefühl", sagt ein gebürtiger Schlagenhofener.© picture alliance/imageBROKER/Günter Lenz
Vorbeter: "Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus, den du, Jungfrau, vom Heiligen Geist empfangen hast."
Nachbeter: "Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen."
Im strömenden Regen läuft ein gutes Dutzend katholische Pilger durch den Wald. Bis zum Ziel auf Kloster Andechs sind es zehn Kilometer. Es ist eine Bittprozession, und der Grund dafür liegt mehr als 200 Jahre zurück. Eine Viehseuche drohte damals auf das Schlagenhofener Vieh überzugreifen. Die Dorfbewohner gelobten, im Falle der Verschonung als Dank jährlich zum Kloster zu pilgern.
"Sie hatten kein Mikroskop, sie wussten nicht, was das ist, und dann war es entweder eine Strafe Gottes oder man musste die himmlischen Mächte günstig für sich bringen", erklärt Robert. "Und dann hat man eben eine solche Wallfahrt gelobt: ,Ein Mal im Jahr kommen wir dorthin, und dann wird in den Opferstock gegeben und wir beten.‘ Und jeder weiß dann: Gott, Maria haben geholfen.
Und aus diesem – nicht negativ zu verstehen –, aus diesem beschränkten Denken, weil man andere Sachen nicht wusste und kannte, kommt dann die Konzentration auf das Wesentliche und das Festhalten am Bewährten. Wo man dann sagt: ,Können wir nicht machen, wir wissen nicht, wo wir hinkommen.‘ Und das ist in bäuerlichen Gesellschaften deutlicher drin, weil man Angst vor Experimenten hatte, die, wenn sie schiefgehen, dazu führen können, dass die ganze Existenz gefährdet ist. Diese Bauern waren ja Hungerleider!"
Heute ist die Pflege solcher Traditionen nicht mehr so naturnotwendig wie früher, heute leben die Dorfbewohner nicht mehr in der geschlossenen Welt vergangener Zeiten, sie könnten mit dem Auto in die Klosterschänke fahren, im Fernsehen, auf dem Laptop oder auf dem Smartphone sehen, was in der Welt los ist.

"Diese Gesellschaft soll stabil sein"

Warum treffen wir in Schlagenhofen Andi und seine Feierabendkühe? Warum verkauft Sybille nicht ihr "Zeug" und geht wieder in die Oper, wie sie es früher so gern tat? Der Volkskundler Wolfgang Kaschuba sucht eine Erklärung dafür, dass Menschen die Mühe schätzen, die es macht, auch heute noch ein althergebrachtes Dorfleben zu leben. Obwohl die Anziehungskraft der Städte so groß ist und die Stadt auch in der bayerischen Provinz nicht mehr unerreichbar weit weg ist.
"Zum ersten Mal in der Geschichte könnte man mit Blick auf Österreich, auf Polen, auf Ungarn auch das Gefühl haben, zum ersten Mal gibt nicht die Stadt Richtung und Takt vor, sondern das Land", sagt Kaschuba. "Das würde das Stadt-Land-Verhältnis historisch in der Tat umkehren. Das hat natürlich etwas zu tun damit, dass es ganz offenbar einen Konflikt gibt, den wir gerade auch in Deutschland nicht ausgetragen haben, wie die Gesellschaft aussehen soll, in der wir leben.
Und da wäre die Antwort in dem Dorf eben, diese Gesellschaft soll stabil sein. Sie soll sich kontinuierlich entwickeln. Wenn wir keine Grundstücke verkaufen, verändert sich ja in der Tat zumindest in diesem Kern wenig. Und das Erstaunliche daran ist natürlich in diesem Dorf, dass es offenbar ökonomisch funktioniert."
Das Verlangen nach stabilen Verhältnissen in einer zunehmend instabilen Welt: Vielleicht speist sich daraus die Kraft für den dörflichen Zusammenhalt in dem 200-Seelen-Dorf am Ammersee? Wobei das Dorf materiell in einer vergleichsweise komfortablen Situation ist. Tradition als Luxus, den man sich leisten will und kann?
"Vielleicht haben wir hier das ungewöhnliche Phänomen einer ländlichen gated community, nämlich einer community, die sich selber bewacht und selber schützt, die sich ihrem Erbe verpflichtet fühlt, die auch eine schöne Landschaft haben will, die unverbaute Aussichten haben will, sich das möglicherweise leisten kann und deswegen scheint das auch eine ganz besondere Konstellation zu sein", meint Kaschuba. "Dass sich diese Dorfgesellschaft nicht über Konkurrenz auflöst, wie sehr viele, weil spekuliert wird mit Baugrundstücken und verkauft wird, sondern offenbar sich so eine Art Rütlischwur geleistet hat, ohne Anlass. Das mag eine Antwort darauf sein schließlich, natürlich in einer der reichsten ländlichen Regionen Deutschlands."
Auch wenn das Dorf ein tief sitzendes Bedürfnis befriedigt, drängt sich die Frage auf: Wie lange wird es sich das noch leisten können? Kann selbst ein so widerständiges Dorf den Auflösungsprozessen der Moderne dauerhaft widerstehen? In einer Welt, in der digitale Plattformen zunehmend Lebensrhythmus und Lebenszusammenhänge dominieren?

"Schlagenhofener ist man mehr aus Leidenschaft"

"Ich bin öfter an den Wochenenden und auch unter der Woche da, weiß aber jetzt schon, dass, wenn ich nächstes Jahr 18 werde, wahrscheinlich wieder hierher ziehen will", sagt David. "Weil mich das einfach wie ein Magnet anzieht. Ich kenne hier einfach jeden und ich fühle mich einfach willkommen, und deshalb macht mir das Ganze hier Spaß."
"Man geht ins Dorf, man geht zu dem, man geht zu dem, das ist einfach persönlich, man kennt jeden, man ist nett zueinander", erzählt Roman. "Das ist einfach das Schöne in Schlagenhofen. Schlagenhofener, würde ich mal so sagen, ist man mehr aus Leidenschaft. Das ist kein Wohnort, das ist ein Lebensgefühl."
Roman ist der Sohn von Sybille Sieber. Wird er später den Hof übernehmen?
"Ja, auf jeden Fall, entweder ich oder mein Bruder."
Wenn es nach der Oma von Robert geht, ist die Sache klar.
"Die hat immer gesagt: ,Das merkst du dir! Die Heimat verkauft man nicht.‘ Das heißt also, es gibt bestimmte Dinge, die nicht zur Disposition stehen."

Regie, Ton, Sprecher: Lutz Homann

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