Bauen mit Tüten und Autoreifen

Von Jochen Stöckmann |
Die Teilnehmer der Ausstellung „West Arch“ kommen aus Belgien, Deutschland und den Niederlanden. Sie planen Eigenheime ebenso wie Selbstbauprojekte und Gebäude aus wiederverwerteten Materialien – und zeigen auch ein neues Verständnis vom Umgang mit Raum und Stadtatmosphäre.
Mit aufblasbaren Strukturen, für Event-Zelte ebenso verwendbar wie im Katastrophenfall als Notunterkunft, experimentiert „lobomob“ aus Wuppertal. „DUS Architects“ aus Amsterdam füllen große Einkaufstüten mit Sand, errichten daraus Hotels für eine Nacht. Daneben sind exakt gefräste Bauelemente zu sehen – vorerst nur aus Pappe. Diese Ärmlichkeit der Materialien geht auf anregend widersprüchliche Art einher mit aufwendigen Präsentationsformen: nicht nur mit Modellen und Planzeichnungen, auch per Video und Computeranimation nehmen es die jungen „Westarch“-Architekten im Forum Ludwig Aachen mit den Kurvenstars der Branche wie Zaha Hadid oder Frank Gehry auf:

„Allerdings ist es bei den großen Architekturbüros häufig mit einem Beeindruckungsgestus verbunden, den weder wir uns als mittelgroßes Museum wirklich leisten können, noch können ihn sich die jungen Architekten ihn wirklich leisten. Das heißt, man muss versuchen, Nischen zu definieren. Eine sehr interessante Praxis, die – wie ich glaube – auch große Nähe zu Organisationsformen zeitgenössischer Kunst hat.“

Brigitte Franzen, Direktorin des Ludwig Forum, verweist auf den Niederländer Anne Holtrop, der keinen Unterschied mehr macht zwischen seinen skulpturengleichen Modellen und tatsächlich realisierten Gebäuden. Oder auf Büros, die etwas völlig Neues anfangen wie die Gruppe „2010“ mit der „Re-Use“-Strategie: In einer „Harvest Map“, einer „Erntekarte“, nehmen die Architekten alle verwertbaren Materialien auf, die sie im näheren Umkreis finden. Und so entstehen laut Brigitte Franzen ohne großen Energie- und Ressourcenaufwand Gebäude aus Autoreifen, Metallspulen oder Industrieabfällen:

„Das können zum Beispiel Einfamilienhäuser sein, die dann mit Holz von großen Kabeltrommeln gebaut worden sind. Das ist schon auch eine moralische Vorgehensweise, oder eine ethische. Denn die Entscheidung ist ja nicht so, dass man sagt: Ich finde jetzt diese Kabeltrommeln, also müssen auch die Häuser wie Kabeltrommeln aussehen.“

Es entsteht auch Architektur ganz ohne Mauern und Wände, wenn etwa „Artgineering“ ungefragt das Verkehrsaufkommen auf Durchgangsstraßen untersucht – und mit Anwohnern Alternativen entwickelt. Diese Gestaltung des öffentlichen Raums wird als Thema in Workshops und Vorträgen eine Rolle spielen, etwa im Blick auf die jüngsten Demos gegen allzu groß dimensionierte Stadtplanung. Brigitte Franzen:

„Wie man jetzt zum Beispiel in Stuttgart sehr schön sehen kann, wenn man sich die Geschichte des Bahnhofs und dieses Stuttgart 21-Projektes anschaut. Da sieht man aber auch, dass die Leute mittlerweile begriffen haben, dass es natürlich um den gebauten Containerraum geht, dass der aber auch etwas mit Identität zu tun hat, mit Atmosphäre. Und sie kreieren in dem Moment, wo der Protest formuliert wird einen sozialen Raum, der natürlich noch einmal ganz anders eine architektonische Wirkung entfaltet.“

Vorweggenommen, imaginiert hat die Deutschtürkin Aysin Ipekci solche Räume mit ihrem preisgekrönten Entwurf der Kunstakademie in Jerusalem – nachdem sie zuvor einige Zeit für das japanische Büro SANAA gearbeitet hatte. Dieses Surfen durch die Kulturen geht einher mit dem Abschied von festgelegten Stilen, Architekturschulen oder gar definitiven Theorien, konstatiert Jan Kampshoff, Statdplaner von modulorbeat und Gastkurator in Aachen:

„Man spürt schon: grenzüberschreitend ein anderer Umgang, aber auch Verbundenheit mit Texten. Oft auch der Wille, selber Texte zu schreiben. Die Auswahl, das worauf man zurückgreift, ist immer breiter geworden – und gemixt mit Comics, mit Kunstbüchern. Das Verhältnis von Kunst und Architektur ist im Moment sehr, sehr eng.“

Dabei geht es nicht um das Kopieren bewährter Muster, sondern um Bricolage, Bastelei im besten Sinne. Ein Modell, das diesen Übergang zu einer neuen Architektur, den Bruch mit der Generation der Star-Architekten markiert, ist der Kindergarten der Brüsseler Gruppe „Anorak“: einfach übereinander gestapelte Wände, die gerade in ihrer schlichten Konstruktion eine große Variationsfreiheit garantieren und beliebig veränderbare Raumfolgen zulassen. Jan Kampshoff:

„Einer der Partner hat in London an der Architectural Association studiert, dann bei Patrik Schumacher, dem Büropartner von Zaha Hadid, bei Zaha Hadid im Büro auch gearbeitet. Und hat einfach in der Erkenntnis dieser Stararchitektur, die auf eine Person und Zaha Hadid Superstar ausgerichtet ist, einen kompletten Richtungswechsel eingeschlagen. Das Büro lässt sich formal überhaupt nicht mit dem zusammenbringen, was der Kollege in der Ausbildung mitgenommen hat. Das ist dann vielleicht nicht die große Vision am Ende – aber vielleicht eine bessere Architektur.“

„Westarch“ will nicht besser sein, ist keineswegs schlechter als die derzeit favorisierte Architektur – sie ist auf jeden Fall anders: vielleicht nicht so beeindruckend, dafür aber höchst bedenkens- und anschauenswert.

West Arch – Eine neue Generation in der Architektur
Forum Ludwig Aachen, bis 14.11. 2010
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