Basisdemokratie versus repräsentative Demokratie?

Von Leonard Novy · 22.12.2010
Stuttgart 21, Berliner Flughafen-Streit, Schulreform in Hamburg, Nichtraucherschutz in Bayern – allerorten begehren die Bürger auf und protestieren gegen die Entscheidungen ihrer gewählten Repräsentanten. Die gute Nachricht lautet: Dieses Aufbegehren ist vor allem ein Begehren, das das gängige Lamento der Politikverdrossenheit Lügen straft.
Denn die Bürger wollen mitreden, wenn es um Belange geht, die sie unmittelbar betreffen. Die schlechte Nachricht: Die vielzitierte Kluft zwischen den Regierenden und den Regierten, sie scheint unaufhaltsam zu wachsen.

Hier artikuliert sich der Frust über Institutionen, die zwar formal intakt scheinen, tatsächlich aber Züge dessen tragen, was der Soziologe Colin Crouch Postdemokratie nannte: Eine Politik, die den Realitäten globalisierter Märkte zusehends hinterherhinkt und die, sofern sie überhaupt noch etwas zu melden hat, permanent damit beschäftigt scheint, dem Diktat vermeintlicher Sachzwänge folgend hastig Bankenrettungsschirme zurechtzuzimmern, nicht jedoch damit, ihre Entscheidungen im Dialog mit dem Wähler zu begründen.

Es nimmt daher kaum Wunder, dass der Ruf nach direktdemokratischen Verfahren lauter wird. Dahinter steht der Versuch der Bürger, in einer scheinbar aus den Fugen geratenen, zusehends unübersichtlicher werdenden Welt wenigstens in ihrer unmittelbaren Lebensumwelt so etwas wie Autonomie und Souveränität wiederherzustellen.

Und es spricht ja auch Einiges dafür, die Bürger etwa im Falle politischer Großvorhaben auf kommunaler und Landesebene zu befragen – im Idealfall kommen die Debatten im Vorfeld der Abstimmung einer präventiven Schlichtung gleich. Allheilmittel sind direktdemokratische Verfahren dennoch nicht. Denn nur in den Institutionen der pluralistischen Repräsentativdemokratie, in Parlament, Parteien und Regierung, können Gemeinwohl- und Zukunftsorientierung in politischen Entscheidungen ausbalanciert werden, statt ständigen ad hoc-Situationen unterworfen zu sein.

Führung, wie sie sich aus dem Prinzip der temporären Delegation von Macht durch Wahlen ergibt, ist in großen, modernen Gesellschaften schlichtweg eine demokratische Notwendigkeit. Dies kann auch bedeuten, dass gewählte Politiker unpopuläre Entscheidungen gegen akute Widerstände durchsetzen. Responsiv und im Sinne des Gemeinwohls handelt erst derjenige Politiker, der sein Tun nicht eins zu eins von sich in Umfragen spiegelnden Befindlichkeiten der Gesellschaft abhängig macht, sondern selbige auch zu hinterfragen weiß und Veränderungsprozesse anzustoßen wagt.

Doch die Akzeptanz all dieser abstrakten Vorteile der repräsentativen Demokratie kann nicht einfach vorausgesetzt werden. Und sie erodiert, je mehr die Bürger an der demokratischen Qualität politischer Entscheidungsprozesse zweifeln und den Eindruck haben, ohnehin keinen Einfluss darauf zu haben, was die Regierung tut.

Die Zeit des einsamen Entscheidens und der Politikgestaltung hinter verschlossenen Türen ist passé. Das hat etwas mit den veränderten Erwartungen und Ansprüchen einer Gesellschaft zu tun, die sich außerhalb traditioneller politischer Strukturen organisieren will. Partizipation jenseits von Wahlen, der Mitgliedschaft in Parteien oder zivilgesellschaftlichem Engagement stand die Politik lange skeptisch gegenüber – nicht ganz ohne Grund. Denn sie war schwer zu organisieren und blieb von der Bürgerseite her oft unübersichtlich und unverbindlich.

Mit dem Internet steht nun ein Instrument zur Verfügung, mit dem sich Wissen und Erfahrungen der Bürger wirksamer denn je in politische Planungs- und Entscheidungsprozesse integrieren lassen. Beispiele aus aller Welt belegen, dass Dialog und Zusammenarbeit zwischen staatlichen Akteuren und Bürgern sich nicht nur positiv auf die Legitimation, sondern auch auf die Qualität politischer Entscheidungen auswirken können. Schließlich können heute weder Politik noch Verwaltung für sich in Anspruch nehmen, die Vielfalt gesellschaftlich verbreiteten Wissens umfassend abzubilden. Das Internet – es ist gleichermaßen Ausdruck und Treiber eines umfassenden gesellschaftlichen Wandels, der traditionelle Hierarchien in Frage stellt und Erwartungen hinsichtlich Transparenz, Dialog und Beteiligung weckt. Es birgt jedoch auch Chancen für ein neues, partizipatives Verständnis von Führung, das den Ruf nach einer "Bundes-Basisdemokratie" obsolet machen könnte.

Dr. Leonard Novy ist Politikwissenschaftler und Fellow des Berliner Think Tanks "Stiftung Neue Verantwortung". Von 2009 bis 2010 war Novy Leiter Gesprächsformate bei der AVE Gesellschaft für Fernsehproduktion mbH. Von 2006 bis 2009 war er bei der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh, beschäftigt, zuletzt als Leiter zweier Projekte zur Strategie- und Steuerungsfähigkeit der Politik. Studium der Geschichte und Politikwissenschaften an der Humboldt Universität, der University of Cambridge und der Harvard University. Wissenschaftlich wie journalistisch publiziert er zu Themen der internationalen Politik, politischen Steuerungsfähigkeit und politischen Kommunikation, zuletzt als Herausgeber des Sammelbands "Lernen von Obama? Das Internet als Ressource und Risiko für die Politik".
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