Bartgeier

Die Giganten der Lüfte kehren zurück

Bartgeier in den Alpen
Durch Wiederansiedlungsprojekt zurück: der Bartgeier © privat / Foto: Felix Knollseisen
Von Dagmar Röhrlich · 25.09.2014
Vor 100 Jahren wurde in den Alpen der letzte Bartgeier getötet. Die Tiere waren verhasst, manche glaubten sogar, die Aasfresser seien eine Gefahr für Kinder. Vor einigen Jahren wurde damit begonnen, Bartgeier wieder anzusiedeln. Doch ihre Zukunft ist bedroht - durch Windparks, Schwermetalle und Antibiotika aus der Tiermast.
Michael Knollseisen: "Der Kilian ist gerade gelandet."
Da sitzt er, Kilian: ein junger Bartgeier im dunklen Jugendgefieder. Noch fehlt ihm die prächtige, rotgeschminkte Federhaube der Altvögel, und so sitzt er gut getarnt auf einem Felsblock. Ohne den Wildökologen Michael Knollseisen hätte ich ihn kaum bemerkt:
"Spannend ist, wo der junge Bartgeier jetzt hockt. Da links ist eine ganze Gruppe von Schafen, unter anderem auch Schafe mit relativ kleinen Lämmern, die total ruhig drauf reagiert haben, dass der Bartgeier da gerade drüber geflogen ist."
Dabei soll er doch die Lämmer holen ...
"Die können absolut einwandfrei zwischen einem Steinadler und einen Bartgeier unterscheiden und wissen ganz genau: Der Bartgeier ist überhaupt keine Gefahr."
Denn Bartgeier jagen nicht, niemals.
"Die Tiere reagieren auch ruhig, wenn der Bartgeier unmittelbar neben den Schafen landet. Er spaziert zwischen den Schafen herum und frisst eine Nachgeburt oder ein totes Lamm, was ja auch sehr häufig ist."
Die Schafe am Hang sind höchst lebendig und interessieren Kilian nicht. Er hebt lieber ab. Obwohl er erst Mitte Februar geschlüpft ist, reicht seine Spannweite an die seiner Eltern im tschechischen Zoo Liberec - fast drei Meter:
"Der schlagt regelmäßig mit den Flügeln. Jetzt dreht er aus, jetzt sieht man ihn schön am Himmel oben. Er kreist die meiste Zeit sehr ruhig oder zieht so am Hang entlang und versucht jeden Hangaufwind zu nutzen. Die sind heute eben relativ wenig geflogen, den ganzen Vormittag hat es geregnet, und jetzt, wo es sich ein bisschen auftut, fliegen sie davon ..."
"Die Abfallbeseitiger"
Bartgeier sind intelligent, neugierig, leben seit Jahrtausenden mit dem Menschen. Schließlich sind, wo Menschen leben, Haustiere, es wird geschlachtet - und damit bleiben immer Reste für Aasfresser. Für ihre zentrale Rolle in der "Abfallbeseitigung" werden die Vögel von den Pyrenäen bis zum Himalaya geschätzt. Nur im Alpenraum waren sie lange verhasst:
Hans Frey: "Man hat diese Art immer als sehr gefährlich angesehen, weil man eben große Knochen im Magen gefunden hat, bei Sektionen, und sie dachten, das muss ein wahnsinnig gefräßiger Vogel sein, der nicht davor zurückscheut, auch kleine Kinder zu rauben."
Hans Frey ist Veterinärmediziner und leitet in Haringsee bei Wien die Greifvogelstation und das offizielle Bartgeier-Zuchtzentrum.
"Es gab damals spezialisierte Jäger, die belohnt wurden von den Bauern. Man hat ihnen ein Geld gegeben, wenn sie die Fänge von einem Bartgeier vorweisen konnten. Er war wirklich ein gefürchtetes Tier, und er ist auf diese Art und Weise innerhalb von 100 Jahren etwa effektiv ausgerottet worden."
1913 wurde im Aosta-Tal der letzte Bartgeier der Alpen erlegt. Zwar bemühten sich einzelne Geierfreunde direkt danach um ihre Wiederansiedlung. Es blieb jedoch ein Traum - bis 1975 eine Gruppe Wissenschaftler und Umweltschützer am Rand einer Greifvogeltagung in Wien beim Heurigen beschloss, Jungtiere aus zoologischen Gärten in den Alpen auszuwildern.
Könige der Lüfte
In diesem Jahr geht es für Kilian und seinen Altersgenosse Felix unter der Obhut von Michael Knollseisen in die Freiheit. Ich bin im osttirolischen Debanttal im Nationalpark Hohe Tauern auf Exkursion zum Thema "Könige der Lüfte": die drei großen Greifvögel der Alpen - der Adler, der Gänse- und vor allem der Bartgeier.
Michael Knollseisen: "Der Felix sitzt da oben am Steilhang, unmittelbar leicht außerhalb von der Freilassungsnische, die Bereiche, wo die eigentlich zum Fliegen begonnen haben."
Der Bartgeier Felix stammt aus dem katalanischen Centro de Cria Valcallent, und obwohl er zu einer einzelgängerischen Art gehört, arrangiert er sich mit Kilian:
"Da hat man so einen grünen Bereich, da ist eine Nische hinein, die auch von den Ziegen gern genutzt wird bei Schlechtwetter. Und diese Halbhöhle haben wir umfunktioniert zur Bartgeierhöhle."
Debanttal in Osttirol
Debanttal in Osttirol© privat / Foto: Thomas Steiner
Für das Auswildern der Geier haben die Wildbiologen ein Verfahren aus der Falknerei adaptiert. Junge Falken werden in großen Holzkisten ausgesetzt, dürfen ein paar Wochen frei herumfliegen und ihre Fähigkeiten perfektionieren. Sie werden gefüttert, damit sie zurückkehren, und im Spätsommer eingefangen. Das bleibt den Bartgeiern, die nach ein paar Wochen das ausgelegte Futter verweigern, erspart:
"Die beiden Jungs haben da oben die ersten drei Wochen in Freiheit verbracht, bevor sie dann eben im Alter von knapp vier Monaten zum Fliegen begonnen haben."
Felix war ein Spätzünder, Kilian der schnellere. Sein erster Flugversuch führte ihn etwa 100 Meter weit und dann brauchte er Stunden, um den Hang wieder hinauf zu spazieren. Oben angekommen, hob er wieder ab. Der Flug war wacklig, die Landung unsanft - aber in der Mulde, in die er gepoltert war, lag das Gerippe eines Lamms. Zwei oder drei Jahre alt waren die ausgebleichten Knochen, und Kilian verschlang sie aufgeregt.
Erste Versuche scheitern
Eine lokal ausgerottete Art zurückzubringen, braucht viel Engagement, Zeit, Geld und Wissen: So scheiterte in Frankreich und der Schweiz ein erster Versuch, bei dem halbwüchsige, wild gefangene Bartgeier aus Afghanistan freigelassen wurden.
Hans Frey: "Der Transport hat große Verluste verursacht, und auch die Vögel haben sich nicht so verhalten, wie man es sich erhofft hat."
Die Tiere waren bereits auf ihre Heimat geprägt, passten sich nicht mehr an den neuen Lebensraum an, erinnert sich Hans Frey auf der kleinen Veranda hinter der Auffangstation. Unter Büschen nehmen Hühner ausgiebige Staubbäder und Krähen turnen durch die Bäume:
"Nachdem aber der Alpenzoo Innsbruck seit 1973 regelmäßig Nachzuchten hatte, wurde die Idee geboren, man versucht ein Zuchtprogramm auf einer internationalen Basis als Kooperation der Tiergärten."
Über zehn Jahre hinweg sollte ein Zuchtbestand aufgebaut werden. Ziel war es, knapp vier Monate alte und gerade noch flugunfähige Bartgeier in einem Tal freizulassen, das sie von da an als Heimat betrachten. Außerdem dürfen die Vögel nicht auf den Menschen geprägt sein: Die Jungtiere müssen von Bartgeiereltern aufgezogen werden. Allerdings lebten Mitte der 1970er-Jahre nur rund 30 Bartgeier in den Zoos - und:
"Wir konnten zwar am Mond fliegen zu dem Zeitpunkt, es war aber damals noch nicht möglich, eine Geschlechtsbestimmung bei dem Bartgeier ohne größere Umstände durchzuführen. Das heißt, man wusste von den meisten Tieren nicht, ob sie ein Männchen oder ein Weibchen waren."
So erhielt die Zuchtstation in Haringsee einmal aus einem deutschen Zoo ein "sicheres Weibchen":
"Ich habe versucht, die dann mit einem schönen Männchen zu verpaaren. Die haben kopuliert, haben ein Nest gebaut, aber nichts gelegt. Jetzt haben wir lang hin und her überlegt, was könnte ich tun, um die zu stimulieren und hab' dann beschlossen, ich geben denen ein Kunstei in das Nest. Beide Bartgeier waren begeistert von der Idee, haben zu brüten begonnen. Im nächsten Jahr haben die alle Nestvorbereitungen gemacht, Nest gebaut, kopuliert, aber wieder keine Ei-Ablage."
Das Weibchen wurde in einen anderen Zoo gebracht, wo es starb. Die Sektion ergab: Es war ein Männchen. Für die Verhaltensforschung war die gescheiterte Zucht jedoch ein Erfolg: Sie bewies, dass bei Bartgeiern Männerpaare als Ammen eingesetzt werden können:
"Wenn ein Bartgeiermännchen daher im Nest ein Ei vorfindet, das normalerweise die Partnerin eben gelegt hat, löst es bei ihm sofort ein Brutpflegeverhalten aus. Das heißt, er sitzt drauf und wärmt das Ei, und später zieht er das Junge groß. Wenn man dann zwei Männchen verpaart - was sehr gut geht, denen ist es ziemlich wurscht, ob es ein Männchen oder ein Weiberl ist - und man gibt ihnen dann ein Ei ins Nest, dann glaubt jeder vom anderen, dass er das Ei gelegt hat und beide beteiligen sich an Brut."
Der Forscher brütet mit
Handaufgezogene Bartgeier akzeptieren sogar den Menschen als Brutpartner:
"Ein ehemaliger Doktorand von mir brütet jedes Jahr fröhlich mit zwei Geiern, was ziemlich zeitaufwendig ist. Der muss da jeden Tag sich ins Nest setzen, mit zwei Männchen ist da ziemlich viel zu tun. Er wird dann wieder abgelöst von den Bartgeiern, und dann hat er Freizeit und dann sitzen wieder die Bartgeier auf dem Nest."
Dass in den Alpen und den französischen Cevennen inzwischen mehr als 170 Bartgeier freigelassen werden konnten, ist auch den Ammen zu verdanken. Sonst hätte alles viel länger gedauert. Denn ein Bartgeierküken duldet niemanden neben sich.
"Es gibt einen Kainismus zwischen den Jungen."
Das zweite Ei in einem Nest ist nur Ersatz - und Frischfleischreserve. Bartgeier schlüpfen mitten im Winter, wenn Schnee, Kälte und Lawinen unter den Wildtieren einen hohen Tribut fordern. Trotzdem kann es zu einem Nahrungsengpass kommen, und der wäre in den ersten Tagen fatal: Gerade geschlüpfte Küken vertragen keine Knochen, müssen mit frischem Fleisch gefüttert werden. Ist also das erste gesund, wird das zweite von den Eltern nicht beachtet und vom Geschwister attackiert - bis es stirbt und verfüttert wird.
Deshalb wird im Gehege das zweite Ei für die Ammeneltern herausgenommen. Und bei der Auswilderung der jungen Bartgeier wird eine große Nische gewählt:
"Ungefähr zehn Meter Durchmesser, sodass sie einfach Platz gehabt haben, um sich irgendwo zu entfalten, beziehungsweise um sich gegenseitig aus dem Weg zu gehen. Auch hat die Möglichkeit bestanden, dass ich das Futter einfach sehr weit haben verteilen können, so dass es zu keiner gröberen Konkurrenzsituation zwischen beiden jungen Bartgeiern gekommen ist."
Der Weg in die Selbstständigkeit
Die Jungen kommen in einem Alter in die Freilassungsnische, in dem Wildvögel eigentlich noch Kontakt zu ihren Eltern haben.
Hans Frey: "Die große Frage war: Werden die Vögel nachher selbständig? Lernt er selbstständig zum Beispiel nach Knochen zu suchen, kann er Knochen brechen, ist das angeboren?"
Inzwischen ist klar, dass die jungen Vögel mit etwas Hilfe ganz gut zurechtkommen.
Hans Frey: "Die Funktion der Eltern in dem Lebensabschnitt ist eigentlich beschränkt auf drei Kriterien: Das erste ist Futterversorgung. Das können wir übernehmen. Die zweite Funktion wäre die Schutzfunktion. Die ist bei einer so großen Art vernachlässigbar. Der dritte Aspekt war, wirkt sich negativ aus, wenn ein Jungvogel einen Monat lang ohne den Sozialkontakt zu den Eltern aufwächst? Wir haben das versucht einzuschränken, indem wir einen zweiten Jungvogel dazustellen, so dass der Sozialkontakt zwischen den Jungen wenigstens gewährleistet ist."
Ein gutes Team
Allerdings äußere der sich meistens in Streitereien, erzählt Michael Knollseisen:
"Der Kilian war der Chef, der Felix ist der Wiefere, der Schlauere. Die haben sich relativ schlecht vertragen - bis vor zwei Wochen."
Dann veränderte ein Schafschädel das Verhältnis der beiden von Grund auf:
"Der Felix ist sofort hingeflogen, war vergnügt, hat dann am Schädel herum gefressen, der Kilian hat sich nicht hingetraut und hat den Felix angebettelt. Und plötzlich sind sie die besten Freunde. Seit zwei Wochen fliegen die ständig gemeinsam, sie übernachten am selben Platz und fressen nebeneinander, Schulter an Schulter."
Als die Bartgeier gerade fünf Tagen fliegen konnten, taten sie sich sogar zusammen, um ein Steinadlerpaar, das am Taleingang brütet, zu vertreiben:
"Wobei der Bartgeier natürlich keine Waffen hat. Der ist halt groß, der kann unglaublich fliegen, ist unglaublich wendig, dem Steinadler einfach überlegen."
Hans Frey: "Den Vogel in der Natur zu erleben ist überwältigend, wirklich überwältigend."
Deshalb besuchen immer mehr Touristen die Gebiete in den Alpen, wo Bartgeier brüten oder ausgewildert werden. Der einst gefürchtete Vogel ist ein Besuchermagnet. Doch bevor es dazu kam, musste gegen das negative Image des Bartgeiers gearbeitet werden.
Hans Frey: "Wir haben das gemacht eben durch Schulkinderaktionen, wir haben viele Berichte in den Medien, durch Fernsehbeiträge, was sehr gut geklappt hat. Auch dafür waren ungefähr zehn Jahre vorgesehen."
Immer wieder erklärten Biologen, wie Bartgeier leben. Dass sie spezialisierte Aasfresser sind. Dass sie kein Fleisch brauchen, sondern Knorpel und Sehnen und vor allem Knochen. Täglich bis zu einem Pfund. Um große Knochen in schlundgerechte Stücke zu zerlegen, tragen sie sie hoch hinauf in die Lüfte, lassen sie dann fallen und verschlingen die Bruchstücke. Ihre extrem starke Magensäure löst die Knochen vollständig auf. Alles Nahrhafte wird verwertet, Unverdauliches wie Fell wieder ausgewürgt.
Kein Aas, keine Geier
Inzwischen sehen wohl auch die meisten Bauern die Vorteile der großen Aasfresser: Sie sparen im Hochgebirge den Helikoptereinsatz für den Abtransport von Kadavern - und damit viel Geld. Allerdings hätte die EU das fast unterbunden, erklärt Ferdinand Lainer. Er ist stellvertretender Direktor Naturraummanagement des Nationalparks Hohe Tauern:
"Nach der BSE-Krise in Europa hat die EU eine Hygieneverordnung verabschiedet, die besagt, dass sämtliche Kadaver, ob sie jetzt von Wildtieren oder von Haustieren stammen, eigentlich sofort entsorgt werden müssen."
Ein Bartgeier in den Alpen
Ein Bartgeier in den Alpen© privat / Foto: Felix Knollseisen
Für die Geier war das eine Katastrophe. Hungrige Tiere flogen auf der Suche nach Fressbarem von den Pyrenäen bis hinauf nach Norddeutschland. Glücklicherweise jedoch widerlegten Forschungen den Zusammenhang zwischen BSE und Kadavern recht schnell.
"Diese Verordnung wurde dann dahin gehend vereinfacht, dass jedes Land selber für sich eine Regelung finden kann. Bei uns, in Österreich, ist es so, dass die Amtstierärzte entscheiden müssen, ob das Kadaver ausgeflogen werden muss oder entsorgt werden muss für die Tierkörperverwertung."
Das beträfe nur seuchenverdächtige Kadaver, solche in Trinkwasserschutzgebieten oder neben Wanderwegen. Alles andere kann sich der Geier holen. In den anderen Ländern ist es inzwischen ähnlich, sonst hätte die Verordnung wohl den Bestand in Europa vernichtet.
Auf Distanz zum Menschen
Über das Debanttal verteilt hat Michael Knollseisen Futterplätze eingerichtet. Er wählt dazu Plätze, an denen auch natürlicherweise Futter liegen könnte: In Lawinenrinnen etwa, oder unterhalb von Wasserfällen. Bartgeier wissen instinktiv, wo sie Knochen finden können.
"Oben im Bereich der Freilassungsnische und da draußen in dem Bereich, wo wir Futter auslegen, baue ich immer wieder Fotofallen auf, um zu dokumentieren, wer an das Futter dran geht. Das Futter ist ja eigentlich für die Bartgeier ausgelegt, aber wir haben Füchsen und Raben, die natürlich die Gelegenheit am Schopfe packen und sich da auch ihren Teil holen."
Michael Knollseisen verteilt die Knochen abends, wenn die Vögel schlafen. Sie sollen nicht erfahren, wer sie versorgt, damit sie misstrauisch bleiben. Und während sich in Freiheit geschlüpfte Bartgeier den Menschen oft neugierig nähern, halten ausgewilderte lieber Abstand. Mit Zweibeinern verbinden sie Unangenehmes: das Beringen, die Blutproben für die DNA-Analysen, das Anbringe der Satellitensender für die Telemetrie, das Bleichen der Federn, damit sie bis zur ersten Mauser aus der Ferne erkannt werden können. Alles miserable Erfahrungen.
"Das ist einer von den Schafschädeln. Von der Farbe her müsste das der Bert sein."
Gemeinsam mit Michael Knollseisen bin ich hinauf zur Futterstelle gestiegen. Vor uns im Gras liegt einer der Schafschädel, die die Freundschaft zwischen Felix und Kilian begründete.
"Der liegt jetzt seit zwei Wochen im Gelände, gut abgefressen schaut der Schädel so aus, da ist wirklich nicht mehr viel übrig."
Tiere mit Persönlichkeit
Die verteilten Schafhaxen sind nur Knochen, Sehnen und Haut. Weil nicht viel dran ist, was verwesen kann, stinkt es hier kaum.
"Die Jungtiere beginnen meist in dem oberen Bereich zu fressen, klauben da die Haut weg, reißen dann die Knorpelteile da heraus, die Sehnen und Bänder, und wenn der Knochen bis da herunter die ersten Zentimeter sauber ist, dann nimmt er das Teil als Ganzes und schluckt es als ganzes so herunter."
Kilian schluckt die Haxe jedoch prinzipiell mit den Klauen voraus. Diese Vorliebe bringt ihn in immer wieder in Schwierigkeiten, weil die Klauen aufspreizen und ihm im Hals stecken bleiben können. Dann hilft nur Herausziehen, und er würgt wie eine Schlange. Kilian fand jedoch eine Lösung: Er trennt die Klauen einfach ab, bevor er die Knochen verschlingt. Bartgeier haben Persönlichkeit.
Das Problem mit dem Genpool
Bei dem Wiederansiedlungprojekt gibt es auch Probleme. So gibt es inzwischen zu viele Weibchen. Auch ist die genetische Vielfalt der Tiere zu gering, stammen sie doch alle von knapp 30 Tieren ab, die in den Zoos lebten - viel zu wenig für eine genetische Absicherung des Bestands.
Hans Frey: "Derzeit ist es so, dass wir im Zuchtstock eine ganz gute genetische Variation haben. Es ist schon schlechter bei den freigelassenen Tieren."
Um das Genom der Eltern möglichst vollständig in der Zucht zu halten, werden die Vögel erst ab dem fünften Tier ausgewildert. Dadurch wurden anfangs nur die Jungvögel weniger Paare freigelassen, so dass derzeit etwa ein Drittel aller im Freiland lebenden Geier von nur zwei Paaren abstammt. Hans Frey:
"Es kommt noch ein Problem dazu. Bei dieser Art gibt es die sogenannte Philopatrie, das ist ein Verhalten, dass ein Jungvogel die Tendenz hat, nach einer Phase der Wanderung, da ziehen sie sehr weit, über Hunderte Kilometer über das Gebiet rundherum, kehren aber dann wieder zum Geburtsort zurück. Wenn ein Paar gut reproduziert, ein Bartgeier kann 30, 40 Jahre alt werden, dann entsteht natürlich um den Brutplatz herum eine kleine Population von verwandten Tieren, von Geschwistern."
Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich nahe miteinander verwandte Bartgeier fortpflanzen.
Hans Frey: "Wir haben auch im Bartgeierprojekt mindestens zwei Fälle, wo entweder Geschwister sich verpaart haben, oder in einem Fall eine Mutter mit einem Sohn sich verpaart hat. Die hat einfach das Männchen verlassen, ist ein paar Kilometer weit in ein Nebental gezogen und hat sich mit dem Sohn neu verpaart und züchtet mit dem."
Für die Forscher gibt es in Haringsee deshalb eine neue Aufgabe: Verletzte Bartgeier aus den Pyrenäen oder Asien, die nicht mehr freigelassen werden können, werden in der Zucht eingesetzt. Außerdem soll ein genetischer Austausch zu der Bartgeierpopulation in den Pyrenäen in Gang kommen. Dort leben 140 Brutpaare. Damit dieser Brückenschlag funktioniert, werden Bartgeier auch in den französischen Cevennen ausgewildert, beispielsweise im Schluchtensystem des Flusses Tarn.
Hans Frey: "Dort brüten in den Felswänden jetzt schon Gänsegeier und Mönchsgeier, und wir versuchen jetzt seit vier Jahren auch den Bartgeier dort anzusiedeln mit ganz guten Erfolgen. Das liegt genau zwischen den Pyrenäen und den Alpen. Das ist nur noch eine Distanz von je 200 Kilometern, was für einen Bartgeier eine Kleinigkeit ist. Seit vier Jahren machen wir das, und es gibt bereits einzelne Vögel, die sowohl in die Pyrenäen geflogen sind, als auch zurück in die Alpen. Das heißt, diese Rechnung dürfte aufgehen, wir haben damit einen Genfluss ermöglicht, so dass langfristig dann ein Austausch von einzelnen Tieren stattfinden wird, hoffentlich zwischen den Pyrenäen und den Alpen."
Das Greifvogelparadies
Im Krumltal in der Nähe von Rauris, im Nationalpark Hohe Tauern, liegt ein Greifvogelparadies. Hier suchen Gänsegeier nach Kadavern und Steinadler und Bartgeier brüten.
Ferdinand Leiner: "Da ist ja jetzt der Hotspot. Es ist ja heuer wird wieder der Horst dort oben besetzt, und nach 2011 zum zweiten Mal ist dieser Horst besetzt."
Der Hotspot ist eine als Nistplatz beliebte Nische in einer der schroffen Felswände des Tals. Eben zog einer der Altvögel weite Kreise, nutzte die Thermik, um hoch hinauf zu steigen.
"Jetzt schauen wir mal den heutigen Jungvogel an. Da oben in den Wänden. Jetzt schauen wir mal auf den Horst."
Im Horst sitzt Kruml 3. So wird der Jungvogel in der Datenbank geführt, weil er der dritte in diesem Tal wild geborene Bartgeier ist. Er sitzt mit dem Rücken zu uns. Anders als Kilian und Felix ist Kruml 3 noch nicht am Fliegen interessiert. Er ist eher Typ "verwöhntes Kind", wird von seinen Eltern auch dann noch versorgt werden, wenn er flügge ist - bis in den Oktober hinein: Erst wenn die nächste Balzzeit beginnt, muss er alleine klar kommen. Kilian und Felix sind dann schon längst selbständig.
Drohende Bleivergiftungen
Sollen die Bartgeier dauerhaft in den Alpen brüten, ist das Überleben der erwachsenen Tiere entscheidend. Aber ihre Sterberate ist hoch. Sie werden illegal geschossen und es gibt Probleme mit Bleivergiftungen.
Gunther Greßmann: "Der Bartgeier hat ja irrsinnig scharfe Magensäfte: Der pH-Wert im Magen von einem Bartgeier ist ungefähr eins, das ist Salzsäure."
Erklärt Gunter Greßmann. Er ist der Geschäftsführer des Technischen Büros "Gesellschaft für Wildtier und Lebensraum".
"Es betrifft aber die Bleiproblematik jetzt nicht nur den Bartgeier, sondern generell die großen Greifvögel, da liegt der pH-Wert zwischen 1 und 1,9, je nach Art. Das macht ihn zwar irrsinnig unempfänglich gegenüber Krankheitserregern, aber auf der anderen Seite auch für andere Sachen wie Umweltgifte sehr empfänglich. Zum Beispiel Schwermetalle werden relativ schnell aufgelöst durch die Magensäure."
Gunther Greßmann packt ein paar Patronen aus. Damit sie schnell und effizient tötet, sind sie Blei gefüllt. Das ist billig und erprobt - aber selbst bei einem gezielten Schuss bleibt im Körper des erlegten Wilds Abrieb zurück. Macht sich dann ein Aasfresser über die Innereien oder Knochen her, die der Jäger zurücklässt, kann es zu chronischen oder akuten Vergiftungen kommen.
"Da gibt es viele verschiedene Formen. Sehr oft geht das auf das zentrale Nervensystem und bewirkt verschiedene Sachen, das sind Verhaltensstörungen, Bewegungsstörungen bis hin zu Nierenschäden, an denen der Vogel eingeht."
Selbst wenn die Tiere gerettet werden, können sie nicht mehr freigelassen werden. Die Lösung wäre bleifreie Munition. Inzwischen beginne auch das Umdenken in Industrie und Jägerschaft, so Gunther Greßmann. Aber es dauert. Außerdem ist Blei für den weltweiten Geierbestand nicht die einzige Bedrohung.
Fulvio Gennaro: "In Afrika passiert derzeit etwas Schreckliches. Dort werden die Geier massenhaft vergiftet, durch Bauern, die sich gegen große Raubtiere verteidigen, aber vor allem durch Wilderer, denn kreisende Geier verraten schnell, wo ein totes Tier liegt."
Beschreibt Fulvio Genero, Leiter des italienischen Naturschutzgebiets Lago di Cornino. Auch auf dem Balkan fallen gerade die letzten Schmutzgeier den Giftködern zum Opfer, die gegen Wölfe ausgelegt werden. Passierte das in den Alpen, wären alle Bemühungen um den Bartgeier zunichte. Nicht minder gefährlich ist ein Medikament:
"Wir haben große Probleme mit dem Entzündungshemmer Diclofenac. In Asien ist durch den Dilofenac-Einsatz in der Tierzucht der Bestand der drei dort lebenden Bartgeierarten um 99 Prozent eingebrochen. Ein Geier, der einen damit belasteten Kadaver frisst, verendet innerhalb weniger Tage."
Windparks sind gefährlich für Geier
Allein in Indien, wo das Mittel inzwischen verboten ist, sollen Schätzungen zufolge 40 Millionen Geier daran verendet sein. Die Folge: Da die Kadaver liegen blieben, machten sich Hunde darüber her, und die Tollwutrate explodierte. In Indien ist das Mittel inzwischen verboten. Dafür darf es jetzt in der EU in der Tierzucht eingesetzt werden. Spanien und Italien, wo 80 Prozent aller europäischen Geier leben, haben es zugelassen. Und dann sind da noch die Windparks. In den Pyrenäen werden jährlich 1000 Gänsegeier durch die Rotorblätter erschlagen oder zerrissen. Studien haben gezeigt, dass die gefährlichen Anlagen zu nahe an den Brutwänden errichtet worden sind - und stirbt ein Elternteil, ist das auch das Todesurteil für das Küken, das nicht in die Statistik eingeht. Spanien bezieht die Geier inzwischen in die Windparkplanung ein, anderswo ist das noch nicht der Fall.
In Haringssee liegen die Volieren mit den Bartgeiern gut versteckt hinter Büschen und Bäumen. Die Tiere sollen ihre Ruhe haben. Hier leben die Paare, die den Nachwuchs für die Freiheit groß ziehen. Trotz aller Gefahren ist das Projekt derzeit so erfolgreich, dass die Zukunft der Bartgeier in den Alpen optimistisch eingeschätzt wird.
Hans Frey: "Grundsätzlich ist es so, dass man bei jeder Wiedereinbürgerung erst nach vielen Jahren überhaupt eine Bilanz ziehen kann. Grad bei einem so langlebigen Vogel wie es der Bartgeier ist, der 40, manchmal 50 Jahre alt werden kann. Das heißt, da es eine sehr langsame Generationsfolge ist, kann man das sicher erst in Jahrhunderten abschätzen und beurteilen, ob das jetzt wirklich ein Erfolg ist oder nicht."
Von den Menschen, die heute ihr Leben den Bartgeiern widmen, wird das also niemand mehr erfahren. Und Felix und Kilian? Sie gehen inzwischen getrennte Wege - und erkunden die Alpen.