Barrierefreies Spielesystem "Genesis"

Von Gesa Ufer · 11.01.2011
Das Angebot an Computerspielen ist so gigantisch wie unüberschaubar: Egal ob Lernspiele für Kleinkinder, Gedächtnistraining für Ältere oder die unzähligen Simulationen, Rollen-, Action- oder Sportspiele – für alle Zielgruppen scheint es das Passende zu geben. Für Menschen und speziell Kinder mit geistiger oder körperlicher Behinderung allerdings ist das Angebot mehr als dürftig. Das neue Computerspiel "Genesis" soll das ändern.
Kevin sitzt hoch konzentriert vorm Rechner. Der blonde hochgewachsene Junge geht in die Berliner Stephanus-Schule für körperlich und geistig behinderte Kinder.

"Ja, ich bin Kevin, ich bin alt 13 Jahre und ich spiele gerade Eisenbahnspiele – ganz verschiedene Sachen."

Das Spielen am Computer gehört hier fest zum Unterrichtsalltag, weil es die Konzentrationsfähigkeit und die Geschicklichkeit übt, weil die Kinder beim Spielen Zusammenhänge erkennen und weil sie vorm Rechner Gefühle wie Schadenfreude und Ärger ausleben können.

Auch in den Lankwitzer Werkstätten in Berlin-Hohenschönhausen hat man mit dem Programm "Genesis" erste Erfahrungen gemacht. Die Sozialpädagogin Kathrin Förster:

"Und der Computer widerspricht ja auch nicht groß (lacht). Da streitet sich niemand, da wird ein Ton angesagt, richtig oder falsch. Matze hat die Töne erlernt, weil er fast blind ist, und erkennt daran, ob er richtig oder falsch liegt. Und das motiviert ihn, wenn er richtig liegt. Sie hören ihn jubeln - er spricht mit dem Computer: 'Juhu!' – macht ihm großen Spaß."

Weil gute Software für Behinderte Mangelware ist, gründete sich an der Nürnberger Georg-Simon-Ohm Hochschule ein interdisziplinäres Team aus Entwicklern, Therapeuten, Pädagogen und Psychologen, um "Genesis" zu entwickeln - ein barrierefreies Lern-, Therapie- und Spielesystem.

Die Genesis-Grundversion kann kostenlos aus dem Internet geladen und auf allen handelsüblichen Rechnern installiert werden. Zu den über dreißig verfügbaren Spielen gehören Geschicklichkeits- und Glücksspiele, aber auch die Logik-, Musik-, Puzzle- und Mal-Spiele, die mithilfe unterschiedlicher Schwierigkeitsgrade angepasst werden können.

Bei diesem Gedächtnisspiel zum Beispiel spielen auf dem Bildschirm vier Knöpfe mit unterschiedlichen Farben und Signaltönen Sequenzen, die nachgespielt werden müssen. Mit jedem Durchgang wird die Sequenz länger – unter großem Applaus. Macht man einen Fehler, ist das Spiel vorbei.

Was die Anmutung betrifft, so stehen bei Genesis statt aufwendig animierter Grafiken wenige und dafür klare Formen und Kontraste im Mittelpunkt. Denn die sorgen bei Menschen mit eingeschränkter Wahrnehmung für eine eindeutige Blickführung. Der Ergotherapeut Thomas Sperber, hat die "Genesis"-Versionen nicht nur mitentwickelt sondern testet sie auch gleich in einer Einrichtung:

"Es ist bei behinderten Kindern halt oft einfach die Geschichte, dass viele moderne Computerspiele gehen auf Reaktion, dass gerade die Reaktion für sie sehr schwierig ist, weil sie da einfach von der Geschwindigkeit her nicht folgen können und das auch nicht so gut wahrnehmen können. Und daher ist gerade dieses gut strukturierte und einfach aufgebaute für ein behindertes Kind oder einen behinderten Jugendlichen akzeptabler."

Gespielt wir üblicherweise über fünf Tasten. Aber der Informatiker und Mitentwickler Christoph Dengele macht keine Einschränkungen:

"Grundsätzlich wollen wir alle Möglichkeiten offen lassen. Das heißt, wir unterstützen alle Drucktaster, die es so auf dem freien Markt gibt. Das geht los mit einer Bedienung, die nur eine Taste hat, was auch durch ein Blasrohr zum Beispiel ersetzt werden könnte. Wir selbst legen hier keine Grenzen fest, sondern haben hier die Devise mit allen gängigen Mitteln auf dem Markt zusammenzuarbeiten. Also mit Genesis ist man nicht an eine spezielle Hardware gebunden."

Dank des sogenannten Mediators kann das Spiel auch inhaltlich individuell angepasst werden. Beim Memory- oder Puzzle-Spiel etwa können Familienbilder eingesetzt werden, um das Spiel reizvoller zu machen. Und auch selbst aufgenommene Texte und Töne statt der vorgegebenen steigern den Spielspaß. Generell gilt: "Genesis" lässt sich – auch ohne große Computerkenntnisse – angenehm leicht bedienen und anpassen. Und wer mag, kann bei "Genesis" auch einfach nur zuhören und mitsingen.

Eine zentrale Idee bei der Entwicklung des Programms war es, behinderten Kindern das gemeinsame Spielen mit nicht Behinderten zu ermöglichen. Das Thema Isolation beschäftigt auch den Ergotherapeuten Thomas Sperber:

"Es ist schon eine gewisse Gefahr. Wir haben´s schon, dass die behinderten Kinder etwas mehr vorm Rechner sitzen. Nur wir haben eben viele Behinderte, die eben nicht die Möglichkeit haben, manche Sachen so zu spielen wie andere, und das ist einfach ein Integrationseffekt, dass sie auch mit Nichtbehinderten ein Spiel spielen können, was die Nichtbehinderten spielen."

Die "Genesis"-Vollversion ist erst seit einigen Wochen fertig – nach über dreijähriger Entwicklungsphase. Die Fallstudien, die das Projekt seit dieser Zeit in verschiedenen Werkstätten und Pflegeeinrichtung begleiten, bestätigen eindrucksvoll den Erfolg der Spielesoftware.

Deshalb denkt das Entwicklerteam der Georg-Simon-Ohm-Hochschule darüber nach, den Nutzerkreis für "Genesis" zu erweitern. Für Schlaganfall-, Parkinson- oder Schädel-Hirn-Trauma-Patienten etwa könnte Genesis gut geeignet sein. Und da Spielen generell alle Menschen fördert, motiviert und verbindet, hat der "Genesis"-Designer Prof. Ethelbert Hörmann für die Zukunft noch eine weitere sehr große Zielgruppe im Auge:

"Das ist das große Gebiet, wo wir uns in Zukunft hinentwickeln werden. Und natürlich und da könnte Genesis einen Markt bekommen: Die älteren Mitbürger, die ja auch Schwierigkeiten haben mit dem Sehen, mit dem Wahrnehmen und mit dem Bedienen."


Service:
Einzelne Anwendungen des Spielesystems "Genesis" finden Sie auf der Projektwebseite.
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