Barbara Ehrenreich: "Wollen wir ewig leben?"

Im Körper herrscht Ausnahmezustand

Eine junge Frau beim Joggen.
"Wollen wir ewig leben?" von Barbara Ehrenreich ist stilistisch brillant geschrieben, so unsere Kritikerin. © imago / Westend61
Von Susanne Billig · 29.06.2018
Langzeitarbeitslosigkeit, drohender Wohnungsverlust und Umweltgifte lassen Menschen körperlich und seelisch erkranken, resümiert Barbara Ehrenreichs in ihrem Buch. Wellness und Sport würden an diesem Umstand auch nichts ändern.
Im Inneren des Körpers herrschen Konkurrenz und Krieg. Diese dystopische Sicht macht die amerikanische Journalistin Barbara Ehrenreich zum Ausgangspunkt ihres neuen Buches "Wollen wir ewig leben?" – und belegt das mit Studien. Immunzellen attackieren mit zunehmendem Alter immer mehr körpereigenes Gewebe und zetteln entzündliche Prozesse an – der alternde Mensch kennt das als Rheuma, Arthrose oder Arthritis.
Makrophagen wirken nach jüngeren medizinischen Erkenntnissen sogar aktiv an der Entstehung von Krebs mit. Bei näherem Hinsehen entpuppen sich auch andere Teilsysteme des Körpers als befremdlich eigensinnig, etwa wenn der Fötus und die umgebende Plazenta der werdenden Mutter so viele Nährstoffe abziehen, dass sich ihr Körper aktiv dagegen wehrt.

Irrwege, denen der Mythos zugrunde liegt

Von hier aus kritisiert Barbara Ehrenreich eine Reihe von Entwicklungen scharf: Die Wellness-Welle, die Menschen dazu bringt, eine Menge Zeit und Geld in Fitnessstudios zu tragen, um Alter und Verfall aufzuhalten. Den steigenden Druck, den Krankenkassen und Politik auf die Bevölkerung ausüben, sich Vorsorgeuntersuchungen, Ernährungsumstellungen und Sportprogrammen zu unterziehen.
Ärztinnen und Ärzte, die ihren Patienten auch bei minimalen Erfolgschancen schmerzhaft-invasive Eingriffe anraten. Für Barbara Ehrenreich sind das Irrwege, denen der Mythos zugrunde liegt, der Mensch habe eine weitgehende Kontrolle über sein gesundheitliches Wohlergehen.

Für eine entspannte Gesundheitsvorsorge

Ihr Buch ist stilistisch brillant geschrieben, mit viel trockenem Humor und persönlichen Erfahrungen gewürzt, aber sicherlich auch polemisch. Details lassen sich in Frage stellen – etwa das angeblich neue Paradigma eines von konkurrierenden Subsystemen heimgesuchten Körpers, das keineswegs als wissenschaftlicher Konsens gelten kann. Auch wenn Barbara Ehrenreich dafür plädiert, es mit der Gesundheitsvorsorge entspannt anzugehen, spricht daraus doch viel die Frau im fortgeschrittenen Alter, die ihre Zeit der Suche nach dem optimalen Leben (sie schreibt ausführlich darüber) nun in Frieden hinter sich lässt.

Krank wegen Armut und Umweltgiften

Dennoch träfe die Biologin der Vorwurf zu Unrecht, sie blende die vielen Menschen aus, denen eine Verhaltensänderung gut täte – weil sie mit psychischen Problemen, Alkoholkonsum, Rauchen oder Übergewicht kämpfen. Im Gegenteil: Die sprunghaft gestiegene Morbidität und Sterblichkeit weißer Amerikaner habe nichts mit mangelndem Gesundheitsbewusstsein zu tun, betont die Autorin, sondern lasse sich klar auf die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten zurückführen.
Hier liegt die wichtige politische Pointe ihres Buches: Es möchte den Blick dorthin lenken, wo Menschen massenhaft körperlich und seelisch erkranken, ohne dass sie selbst daran etwas ändern könnten – wegen Stress, Flexibilisierung am Arbeitsplatz, unsicherer Beschäftigungsverhältnisse, Langzeitarbeitslosigkeit, drohender Wohnungslosigkeit, aber auch wegen Umweltgiften.
Wer mit dieser Botschaft etwas anfangen kann, findet in Barbara Ehrenreichs Buch einen Appell, dessen Vehemenz und Sprachkunst von der ersten bis zu letzten Seite Freude machen.

Barbara Ehrenreich: Wollen wir ewig leben? Die Wellness-Epidemie, die Gewissheit des Todes und unsere Illusion von Kontrolle
Übersetzt von Ursel Schäfer und Enrico Heinemann
Antje Kunstmann Verlag, München, 2018
255 Seiten, 22,00 Euro

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