Baptiste Morizot: "Philosophie der Wildnis"

Der Mensch im Tier - ein Perspektivenwechsel

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Buchcover zu Baptiste Morizots "Philosophie der Wildnis oder die Kunst, vom Weg abzukommen".
Baptiste Morizot schreibt über die "Philosophie der Wildnis oder Die Kunst, vom Weg abzukommen". © Reclam Verlag
Von Hans von Trotha · 04.06.2020
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Baptiste Morizot ist in "Philosophie der Wildnis" auf die Suche nach einem anderen Verhältnis des Menschen zur Natur. Dabei changiert er zwischen Wissenschaft, Mystik, philosophischem Projekt, literarischer Emotion und ökologischem Engagement.
Spürt der Mensch dem Tier in der freien Wildbahn nach, lässt sich das als romantisches Hobby betreiben, als empirische oder theoretische Wissenschaft, als philosophischer Ansatz, atmosphärische Literatur oder auch als mystifizierende Lebenserfahrung. Das Ergebnis dürfte jedes Mal eine aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse wie auch der geschürten Emotionen gewachsene Nähe zur Natur sein, von der wir uns bekanntlich dramatisch entfremdet haben. Und darum geht es Baptiste Morizot, wenn er von einer "Philosophie der Wildnis" spricht. Die Stoßrichtung ist klar: "Man ändert seine Metaphysik nur, wenn man sein Verhalten ändert."
"Philosophisch angereichertes Spurenlesen" nennt Morizot sein Verfahren. Immer wieder rekurriert der Autor und Philosophie-Dozent auf Ansätze aus der Anthropologie, der Verhaltensforschung und der Philosophie – wobei für ihn eine Philosophin eine "Fachfrau für das Staunen" ist. "Das Verfolgen der Spur eines Tieres" schreibt er: "Wenn man es genau betrachtet, hat es fast etwas von Magie."

Magie der Spur

Es ist vor allem diese Magie, die Morizot beschwört. Auf der Spur zu einem neuen Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt changiert er zwischen Wissenschaft, Mystik, philosophischem Projekt, literarischer Emotion ("Keine Nacht war jemals so die meine wie diese") und ökologischem Engagement. In diesem Geflecht kommen die Beobachtungen trotz aller Sättigung mit atmosphärisch dichten Naturerlebnissen und wissenschaftlichen Hintergründen letztlich über den Status des Metaphorischen nicht hinaus. Morizots zentrale Metapher ist die der Diplomatie: Die Umwelt ist ihm "eine noch unerforschte diplomatische Gemeinschaft", wobei er seinen eigenen Begriff von "Erforschung" entwickelt.
So bezeichnet er die Begegnung mit Tieren nicht etwa als Sujet, sondern als "Geschenk". Was er dabei sucht, ist die Begegnung "von Mensch zu Mensch". Das nimmt er ziemlich wörtlich. Zwar leitet ihn die Frage "Was täte ich, Tier, wenn ich du wäre?", aber herauskommt eine überraschend anthropomorphistische Aneignung der beobachteten Natur: Den "verächtlichen Wölfen" unterstellt er "Taschenspielertricks", dem Leoparden, den er "mit der Geduld des Leoparden" sucht, eine "ruhige Souveränität", die ihn gar zu einem "Meister der häuslichen Weisheit" werden lässt, "die bestimmt die Gelehrtesten inspirieren würde". "Der Leopard", heißt es, "könnte ein Lebenskonzept entwickeln, das die Menschen (…) nicht haben erfinden können", ein "Ethos des Majestätischen (…), das die großen Könige der Menschen selten erreicht haben".

Der Natur ihren Zauber zurückgeben

Morizot erzählt in großen naturhistorischen Bögen auf die emotionalen Momente hin, in die er seine Leserinnen und Leser versetzt. Sein Ziel: Der Natur "Zauber zurückgeben" durch "ökosensibles Spurenlesen". "Beim Spurenlesen", schreibt er, "entsteht eine eigentümliche Allianz zwischen empirischem Rigorismus und imaginärer Projektion, zwischen Fabulieren und Exaktheit". Man kann es als die große Schwäche oder aber als den großen Reiz des Buchs auslegen, dass Morizot da oszilliert. Er macht das mit einem hehren Ziel. Er will uns erreichen. Denn: "Die Philosophie der Wildnis macht uns menschlicher."

Baptiste Morizot: Philosophie der Wildnis oder Die Kunst, vom Weg abzukommen
Mit einem Nachwort von Vinciane Despret. Aus dem Französischen von Ulrich Bossier
Reclam Verlag, Stuttgart 2020
192 Seiten, 18 Euro

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