Bambi ist nicht süß und auch nicht niedlich

09.05.2013
Bambi – die Geschichte des wohl bekanntesten Rehs der Welt hat den Autor Felix Salten berühmt gemacht. Die Erstveröffentlichung ist nun 90 Jahre her, ein guter Zeitpunkt, um das "Ur-Bambi" als Hörbuch vorzulegen. Eine zeitlose Parabel, gelesen von Anke Engelke.
Mit einem Klischee sollte man gleich aufräumen: Bambi geht nicht bei jeder Gelegenheit großäugig zum Weinen hinter den Baum. Denn Bambi ist nicht süß und auch nicht niedlich. Jedenfalls nicht nur, jedenfalls nicht bei Felix Salten. Und der muss es wissen, schließlich hat er die "Lebensgeschichte aus dem Walde", so der Untertitel des Romans, selbst erfunden.

"Durch das dichte Laubwerk drang das Licht der Frühsonne als ein goldenes Gespinst. Der ganze Wald erschallte von vielerei Stimmen, war von ihnen durchdrungen wie von einer fröhlichen Erregung."

In einer Sprache, die sich für eine akustische Umsetzung förmlich aufdrängt: Die reichhaltigen und fantasievollen Beschreibungen, der treibende Rhythmus der elegant verschachtelten Sätze: "Bambi" entwickelt einen poetischen Sog, wie man ihn beispielsweise aus Dylan Thomas' legendärem Hörspiel "Unter dem Milchwald" kennt.

"Der Pirol jauchzte unablässig, die Tauben gurrten ohne Aufhören, die Amseln pfiffen, die Finken schlugen, die Meisen zirpten. Dazwischen riss zänkig der Schrei, den die Häher ausstießen, lachte das Schakern der Elstern, brach metallisch das berstende Gocken der Fasanen."

Die Lebensgeschichte von "Bambi" hat es in sich: Da gibt es auf der einen Seite das kaum fassbare Glück, sich die Welt nach und nach zu erobern. Und da gibt es auf der anderen Seite die Angst: Warum, fragt Bambi seine Mutter, muss der Iltis eine Maus töten? Und werden auch wir irgendwann töten müssen? Anke Engelke schafft es, die subtile Komik des komplizierten Textes herauszuarbeiten. Ohne großes Theater macht sie die vielen Rollen des Buches lebendig. Das Pferd und die Krähe, das Eichhörnchen und der Waldkauz – mal klingt ein Tier hysterisch, mal ein wenig dumm – und mal ganz und gar in sich vernarrt.

"´Ach, bleiben Sie doch nur ein ganz kleines Bisschen sitzen`, bat Bambi. ´Ich habe mir schon so lange gewünscht, Sie aus der Nähe zu sehen, seien sie doch so gut.` ´Meinetwegen`, sagte der Weißling, ´aber nicht lange`."

Immer wieder gibt es lustige Momente, immer wieder muss man über den heranwachsenden Bambi und seine grotesken Erlebnisse lachen – nicht zuletzt, weil es im Wald eben gar nicht so anders zugeht als bei den Menschen. Andererseits ist da aber auch der Schmerz: Bambi verliert seine Unschuld, als er mit dem Tod anderer Tiere konfrontiert wird. Bambi wird erwachsen. Bambi wird alt. Und manchen Melancholieaspekt dieser Geschichte haben uns die zahllosen Bambi-Interpretationen der letzten Jahrzehnte verschwiegen. Gerade das ist es, was den Urtext von "Bambi" zu einer überraschenden Neuentdeckung macht.

"Bambi war allein. Er ging an das Wasser, das still zwischen Schilf und Uferweiden hinfloss. Oft und öfter kam er hier her, seit er sich allein hielt. Hier gab es wenig Straßen und hier traf er fast niemals jemanden von den Seinigen. Gerade das aber wollte er. Denn ihm war nun der Sinn ernst geworden und das Gemüt schwer."

Eine zeitlose Parabel über das Leben und Sterben hat Felix Salten mit "Bambi" geschaffen. Da gibt es beispielsweise die Treibjagd, bei der Bambis Mutter stirbt. Wie ein Kriegspanorama entfaltet das Hörbuch den Schrecken und die schaurige Gewalt minutenlang. Man wird Teil dieser Schlacht ums Überleben. Eine der schönsten und zugleich traurigsten Stellen beschäftigt sich ebenfalls mit der Vergänglichkeit: das Gespräch zwischen zwei Blättern im Spätherbst.

"Heute Nacht sind wieder so viele von uns davon. Wir sind beinahe schon die Einzigen hier auf unserem Ast. Man weiß nicht, wen es trifft, sagte das Erste. Als es noch warm war, und die Sonne noch Hitze gab, kam manchmal ein Sturm, oder ein Wolkenbruch, und viele von uns wurden weggerissen, obgleich sie noch jung waren. Man weiß nicht, wen es trifft."

Anke Engelke ist überragend: Ohne Übertreibung, ohne weinerlichen Tonfall, ohne jede Künstlichkeit hält sie die Spannung, folgt man erschüttert der Unterhaltung zwischen den beiden letzten Blättern am Ast: Ob es wohl wahr ist, dass auf die gefallenen Blätter stets neue folgen werden, und auf diese wiederum wieder neue, und so weiter? Wie so oft bei Felix Saltens "Bambi" geht es dabei nicht um pseudophilosophische Plauderei – sondern schlichtweg um die letzten Worte vor dem Ende einer Geschichte.
"Ein nasser Wind strich kalt und feindselig durch die Baumwipfel. ´Hach... jetzt...`, sagte das zweite Blatt, ´ich...`. Da brach ihm die Stimme. Es war sanft von seinem Platz gelöst und schwebte hernieder. Nun war es Winter."

Besprochen von Martin Becker

Felix Salten: Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Wald
Gelesen von Anke Engelke
Tacheles Roof Music
4 CDs, 292 Minuten, 19,99 Euro
Mehr zum Thema