Balzac in Tschernobyl
Mit "Der Kuss" liegt das jüngste Buch Günter Herburgers vor, der sich Zeit seines langen Schriftstellerlebens in zahlreichen Genres verwirklicht hat. In der Gedichtsammlung findet sich auch der Text "Victoire", der eine wagemutige Verbindung herstellt zwischen kontaminiertem Terrain und dem Ort von Balzacs letzter Reise zu seiner angebeteten Gräfin Hanska.
Günter Herburger, geboren 1932 in Isny im Allgäu, hat sich Zeit seines langen Schriftstellerlebens in zahlreichen Genres verwirklicht – in Romanen, Erzählungen, Dreh- und Hörbüchern, und nicht zuletzt in seinen berühmten "Birne"-Kinderbüchern, die vielen sicherlich noch in guter Erinnerung sind. Herburgers einstiges DKP-Engagement und der Traum von einem "Kommunismus der Sprache" sind dagegen heute zu Recht vergessen und fallen kaum mehr ins Gewicht bei einem Autor, dessen Kunst sich schließlich als stärker und subversiver erwies als alle Ideologie. Hatte er nicht bereits in den frühen sechziger Jahren die "Schönheit des Konjunktivs" gepriesen, zu einer Zeit, als gerade sein erster Gedichtband erschienen war?
Mit "Der Kuss" liegt nun das jüngste Buch Günter Herburgers vor, eine ebenso spielerisch wie streng komponierte Gedichtsammlung, die Kunde gibt (nicht nur) von "frühmorgens..../ als die Erde sich zurückbog aus der Dschehena". Hoffnung oder Desillusionierung? Müßige Frage. Diese Verse nämlich missbrauchen den Zeilenbruch nicht, um bruchlose Gewissheiten, welcher Art auch immer, zu verkünden. Weder unter der Vokabel "zeitkritisch" noch "altersmilde" abzuheften, fahren sie dagegen unerwartet die Pranke aus und zerkratzten mit maliziösem Lächeln jegliche Idylle wie etwa in dem Gedicht "Die Vögel":
"Aus einer Wanne voll Nährbier/ labt sich eine Amsel, / bevor sie Angriffe/ gegen einen Omnibus fliegt."
Anstatt sich in eindimensionalem Gegenwartslamento zu verlieren, werden hier mit scheinbar leichter Hand Zeit- und Bedeutungsebenen vermischt, geht selbst in längeren Erzählgedichten das artistische Rätsel vor Pointe (von irgendeiner Botschaft ganz zu schweigen). Freilich buchstabiert sich dieser wohltuende Mangel an Didaktik mitunter auch etwas kryptisch und vage, was schade ist – so etwa in dem Gedicht "Die Garage", das wohl nur noch ausgefuchste Geschichtskenner als den Ort jener Mechaniker-Werkstatt in Buenos Aires lokalisieren werden, in der einst argentinisches Militär unzählige Menschen foltern und ermorden ließ. Dagegen in "Victoire" die wundersam-wagemutige Verbindung zwischen kontaminiertem Terrain und dem Ort von Balzacs letzter Reise zu seiner angebeteten Gräfin Hanska.
"Die Gegend nennt sich Tschernobyl./ Seit anderthalb Jahren wohnt Balzac dort, / möchte seine Gönnerin, die Witwe, heiraten. / Jeden Abend legt er Briefe vor ihr Schlafzimmer."
Der Reaktor explodiert, während Balzac seine Rückkehr nach Paris nur wenige Tage überlebt – und dazu ohne alle Altväterlichkeit dieser Schluss:
"Begraben wurde er nicht. / Victor Hugo kam, löste den Leichnam/ in Salzsäure auf, musste schleunigst fliehen, / sonst hätte es ihn auch noch erwischt."
Dieses Maß an Wahrnehmungsgeschwindigkeit, Konzentration und ironischer Genauigkeit – ein wenig erinnert es an Herburgers frühere Passion des Laufens, der ebenfalls einige seiner Bücher gewidmet sind. Nun also, im achten Lebensjahrzehnt, die Einsamkeit des Langstreckenläufers? Im Gegenteil. Wohl eher: Die innere Freiheit des Marathon-Mannes.
Rezensiert von Marko Martin
Günter Herburger: Der Kuss. Gedichte.
A 1 Verlag, München 2008, 112 S., geb., 16,40 Euro
Mit "Der Kuss" liegt nun das jüngste Buch Günter Herburgers vor, eine ebenso spielerisch wie streng komponierte Gedichtsammlung, die Kunde gibt (nicht nur) von "frühmorgens..../ als die Erde sich zurückbog aus der Dschehena". Hoffnung oder Desillusionierung? Müßige Frage. Diese Verse nämlich missbrauchen den Zeilenbruch nicht, um bruchlose Gewissheiten, welcher Art auch immer, zu verkünden. Weder unter der Vokabel "zeitkritisch" noch "altersmilde" abzuheften, fahren sie dagegen unerwartet die Pranke aus und zerkratzten mit maliziösem Lächeln jegliche Idylle wie etwa in dem Gedicht "Die Vögel":
"Aus einer Wanne voll Nährbier/ labt sich eine Amsel, / bevor sie Angriffe/ gegen einen Omnibus fliegt."
Anstatt sich in eindimensionalem Gegenwartslamento zu verlieren, werden hier mit scheinbar leichter Hand Zeit- und Bedeutungsebenen vermischt, geht selbst in längeren Erzählgedichten das artistische Rätsel vor Pointe (von irgendeiner Botschaft ganz zu schweigen). Freilich buchstabiert sich dieser wohltuende Mangel an Didaktik mitunter auch etwas kryptisch und vage, was schade ist – so etwa in dem Gedicht "Die Garage", das wohl nur noch ausgefuchste Geschichtskenner als den Ort jener Mechaniker-Werkstatt in Buenos Aires lokalisieren werden, in der einst argentinisches Militär unzählige Menschen foltern und ermorden ließ. Dagegen in "Victoire" die wundersam-wagemutige Verbindung zwischen kontaminiertem Terrain und dem Ort von Balzacs letzter Reise zu seiner angebeteten Gräfin Hanska.
"Die Gegend nennt sich Tschernobyl./ Seit anderthalb Jahren wohnt Balzac dort, / möchte seine Gönnerin, die Witwe, heiraten. / Jeden Abend legt er Briefe vor ihr Schlafzimmer."
Der Reaktor explodiert, während Balzac seine Rückkehr nach Paris nur wenige Tage überlebt – und dazu ohne alle Altväterlichkeit dieser Schluss:
"Begraben wurde er nicht. / Victor Hugo kam, löste den Leichnam/ in Salzsäure auf, musste schleunigst fliehen, / sonst hätte es ihn auch noch erwischt."
Dieses Maß an Wahrnehmungsgeschwindigkeit, Konzentration und ironischer Genauigkeit – ein wenig erinnert es an Herburgers frühere Passion des Laufens, der ebenfalls einige seiner Bücher gewidmet sind. Nun also, im achten Lebensjahrzehnt, die Einsamkeit des Langstreckenläufers? Im Gegenteil. Wohl eher: Die innere Freiheit des Marathon-Mannes.
Rezensiert von Marko Martin
Günter Herburger: Der Kuss. Gedichte.
A 1 Verlag, München 2008, 112 S., geb., 16,40 Euro