Baltikum

Hand in Hand in die Unabhängigkeit

Ein Teil der mehr als 600 Kilometer langen Menschenkette, hier in Vilnius, der Hauptstadt der damaligen Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik (LiSSR), durch die drei baltischen Republiken Lettland, Litauen und Estland, aufgenommen am 23.08.1989
Menschenkette durch die baltischen Republiken 1989, hier in Vilnius © picture alliance / dpa / A. Sabaliauskas
Von Michael Frantzen |
Via Baltica 1989: Mit einer Menschenkette von Vilnius bis Talinn setzten die Balten das Signal für die Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Seither hat sich viel getan im Baltikum.
"Es gibt da diese Anekdote – von der NASA, vom 23. August 1989. In Houston saßen die NASA-Leute vor ihren Bildschirmen. Alles Business as usual - bis plötzlich auf den Satellitenaufnahmen von der Sowjetunion dieser mysteriöse weiße Streifen auftauchte. Einmal quer durchs Baltikum. Alle waren völlig verwirrt – bis auf einen. Ein gebürtiger Este. Der wusste Bescheid. Was ihr da seht, liebe Kollegen, meinte er feierlich, ist kein gigantischer Kondensstreifen sondern eine Menschenkette. Das ist der Baltische Weg."
"Der Baltische Weg war unglaublich wichtig – in zweierlei Hinsicht: Er hat uns Litauern gezeigt: Wir sind stark und geeint. Und Gorbatschow in Moskau: Wenn du uns stoppen willst, dann nur mit Gewalt."
"Das war schon ein sehr, sehr euphorisches Gefühl. Ich bekomme jetzt noch Gänsehaut, allein wenn ich daran denke."
So wie Gintra Petra geht es vielen Menschen im Baltikum. Mag der 23. August 1989 auch schon 25 Jahre zurück liegen: Die Erinnerung daran ist immer noch wach. Sehr sogar – meint die lettische Geschäftsfrau aus Riga, die für die deutsch-baltische Handelskammer tätig ist.
"Ich war schwanger mit meinem zweiten Kind. Aber trotzdem waren wir alle, die Familie...wir waren mit. Wir haben das Radio gehört, um zu erfahren, wo genau am meisten die Menschen gebraucht würden. Sodass die Kette wirklich eine vollständige Kette bildet. Ich persönlich hatte nicht mal die geringste Angst. Wenn man fragt warum: Ja, zu dem Zeitpunkt hab ich überhaupt nicht nachgedacht, was passieren konnte."
Es hätte einiges passieren können. In Lettland waren, genau wie in den beiden anderen baltischen Sowjet-Republiken Litauen und Estland, hunderttausende sowjetische Soldaten stationiert. Würde Michael Gorbatschow in Moskau den Befehl geben, die 678 Kilometer lange Menschenkette aufzulösen? Notfalls mit Gewalt? Würde der Kremlchef die Provokation einfach so hinnehmen? Ausgerechnet an diesem Tag zu demonstrieren, am 50. Jahrestag des Inkrafttretens des Hitler-Stalin-Pakts samt seines geheimen Zusatzprotokolls, mit dem das Schicksal der unabhängigen Baltenstaaten besiegelt wurde? Die beiden Diktatoren teilten sich die Einflusssphären in Osteuropa auf: Hitler nahm sich Polen, Stalin Estland, Lettland und Litauen. Die Balten: Spielball zweier Mächte und ihrer Diktatoren. Für viele Letten begann eine lange Leidenszeit. Gintra Petras Vater Janis ist einer von ihnen.
Nach Jahren die Fahne hochgehalten
Vorsichtig rollt Janis Kuopmanis in seinem Haus am Stadtrand Rigas die lettische Fahne aus. Rot-weiß-rot: Das sind immer schon die Farben Lettlands gewesen. Dem sonst so ernst wirkenden pensionierten Tischler huscht ein Lächeln über die Lippen.
"Ich erinnere mich noch, wie ich die Fahne am Morgen des 23. August 1989 aus meinem Elternhaus geholt habe. Mein Vater hatte sie im Pferdestall versteckt, in einem doppelten Dachboden. Während der Sowjetzeit wäre er in Teufels Küche gekommen, wenn sie jemand entdeckt hätte. Sie können sich gar nicht vorstellen, was für ein erhebendes Gefühl das war: Endlich konnten wir sie wieder offen zeigen. Wir haben die Fahne dann zusammen hochgehalten: drei Generationen: Mein Vater, ich und mein Sohn."
Für die drei Kuopmanis-Männer wurde ein Traum wahr. Kein Jahr später - am 4. Mai 1990 - erklärte sich Lettland für unabhängig. Ihr verstorbener Großvater, ein glühender Patriot, hätte sein Glück kaum fassen können, erzählt die Enkelin.
"Ich erinnere mich auch als Kind, dass mein Großvater...er kam jeden Abend zu uns, zu der Uhrzeit, wo die Letten aus den Vereinigten Staaten eine Radiosendung übertragen haben. Und es hieß dann: „Hier spricht American Voice aus Washington.“ Und der Großvater kam jeden Abend zu uns, hat dann aus der Küche dieses tragbare Radiogerät genommen und so lange gedreht, bis man den Empfang erwischen konnte. Es war aber sehr, sehr laut. Weil die Sowjets haben diese Übertragungen natürlich gestört – mit allerlei Mitteln. Und ich als Kind war damals ziemlich genervt: Warum tut er mir so was jeden Tag an? (lacht) Ein Lärm für eine viertel Stunde. (lacht) Jeden Abend. Aber jetzt versteh ich natürlich worum es ging."
Gintra Petras Großvater hat sich Zeit seines Lebens als Lette gefühlt. Bei ihrer Mutter Valentina war es nicht anders.
"Ich habe mich nie als Sowjetbürgerin gefühlt. Das war nicht immer einfach. In Riga, in irgendwelchen Läden: Wenn du etwas auf Lettisch bestellt hast – und die Verkäuferin dir auf Russisch geantwortet hat. Weil sie kein Lettisch konnte. Oder sie keine Lust hatte es zu sprechen. Das war erniedrigend! Aber es hat mich in meiner Identität nur bestärkt: Ich bin Lettin."
So wie Valentina Kuopmanis ging es damals vielen Letten. Sie hatten genug davon, ihr Dasein als ferngesteuerte Satelliten Moskaus zu fristen. Ohne Mitspracherecht. Aus Russland strömten immer mehr Menschen nach Lettland, hauptsächlich nach Riga, um in den riesigen Elektro- und Maschinenfabriken zu arbeiten. Die lettische Hauptstadt war einer der wichtigsten Industriestandorte der Sowjetunion. Gut für den sowjetischen Arbeitsmarkt, gerade im russischen Teil der UdSSR, der so entlastet wurde. Weniger gut für die Letten, die Ende der 80er Jahre mitansehen mussten, wie ihr Bevölkerungs-Anteil im eigenen Land unter die 50 Prozent Schwelle zu sinken drohte. Auch deshalb die Menschenkette, der Protest.
Enorme Zuversicht
"Der Baltische Weg hat uns enorme Zuversicht gegeben. Genau wie die Litauer und Esten haben wir Letten gespürt: Wir ziehen alle an einem Strang. Wir wollen die Unabhängigkeit. Wir schaffen das. Die Angst war weg: Vorher gab es Opposition eher im Versteckten. Nach der Menschenkette haben wir uns nicht mehr versteckt. Selbst als es kritisch wurde: 1990, 1991 habe ich keine Sekunde daran gezweifelt, dass die Sowjets die Uhr noch einmal zurückdrehen könnten. Nicht eine Sekunde."
"Es herrschte dieses Gefühl: Nichts und niemand kann uns aufhalten. Diesmal nicht. Es gibt kein Zurück."
Ergänzt Sarmite Elerte, eine der Organisatorinnen des Baltischen Weges auf lettischer Seite. Die Mittfünfzigerin ist vielen Letten ein Begriff: Hauptsächlich als ehemalige Chefredakteurin der wichtigsten Tageszeitung "Diena". Ab und zu schaut sie in ihrer alten Wirkungsstätte vorbei – dem Informationszentrum der Lettischen Volksfront, der Hauptoppositionsbewegung damals. Bis vor ein paar Jahren nagte in der "Vecpilsetas 13-15" noch der Zahn der Zeit. Doch das war, bevor Riga 2014 Kulturhauptstadt Europas wurde – und die Stadtoberhäupter beschlossen, das mittelalterliche Gemäuer wieder herzurichten. Heute ist hier auf drei Etagen das „Museum der Volksfront“ untergebracht.
"Here you can see the Baltic Way. There is this way from Vilnius. Till Tallinn in Estonia. And it went through Riga."
Fast eine ganze Etage ist dem Baltischen Weg gewidmet. Sarmite Elerte zeigt auf den Schreibtisch, an dem früher ihr "Boss" saß, Oppositionsführer Danis Ivans. Schon komisch, wenn die eigene Geschichte musealisiert wird, meint sie. Aber gut so. Schließlich hätten viele junge Letten heute kaum noch eine Vorstellung davon, wie es damals war; als sie und die anderen Geschichte schrieben.
Warm war es an jenem 23. August 1989. Schon seit den frühen Morgenstunden hockte Samirte Elerte in ihrem kleinen Arbeitszimmer unterm Dach. Von dort aus koordinierte sie mit ein paar Mitstreitern die Route für den Baltischen Weg auf lettischer Seite.
"Als wir am Nachmittag endlich fertig waren, wollten wir raus aus Riga. Doch das war leichter gesagt als getan. Es war wirklich unglaublich. Die Straßen waren voll. Überall Stau. In Riga war normalerweise nie Stau. Es gab zu Sowjetzeiten ja viel weniger Autos als heute. An diesem Tag aber waren die Straßen voll. Weil alle zur Via Baltica wollten. Deshalb mussten wir umdisponieren. Wir hätten es nie und nimmer pünktlich zu der Stelle in der Menschenkette geschafft, wo wir eigentlich hin wollten. Das wäre weit außerhalb, auf dem Land, gewesen. Wir sind in der Nähe von Riga geblieben, ungefähr zehn Kilometer östlich der Stadtgrenze. Wir haben es so eben noch geschafft. Ich glaube, wir waren fünf vor sieben da. Um sieben Uhr ging es ja los."
Die Erkennungsmelodie. Aus Samirte Elertes Transistorradio dröhnte Punkt 19 Uhr die Ballade der drei Schwestern, die am Meeresufer erwachen, um ihre Ehre zu verteidigen. Dreisprachig: auf Estnisch, Lettisch und Litauisch.
Gewaltlos Druck auf den Kreml ausüben
"Das Baltikum erwacht" – tönte es. "Estland, Lettland und Litauen." Die Protestkundgebung konnte beginnen. Schweigend. Hand in Hand. Eine viertel Stunde lang.
"Mit dem Baltischen Weg wollten wir gewaltlos Druck auf den Kreml ausüben. Wir wollten Gorbatschow und den anderen in Moskau zeigen: Wir sind eine Nation, die für Demokratie und Unabhängigkeit kämpft. Aber das war nicht das einzige: Unser Adressat war auch der Westen. Bonn und Washington reagierten ja sehr zögerlich auf unsere Forderungen. Alle glaubten damals: Wenn etwas mit Gorbatschow passiert und er abgelöst wird, dann versinkt die UdSSR in Chaos. Dann fließt Blut. Der Westen dachte: Unser baltischer Traum von der Unabhängigkeit ist gefährlich für Gorbatschow. Also wenn wir damals auf Helmut Kohl oder George Bush Senior gehört hätten, wären wir immer noch nicht frei."
Auch wenn der US-Präsident die Balten weder finanziell noch politisch in ihrem Freiheitskampf unterstützte: Zumindest übte Bush Senior – anders als Kohl - Druck auf Gorbatschow aus. Falls im Baltikum Blut fließen sollte, ließ er dem Kremlchef ausrichten, werde der Westen den Kredithahn zudrehen. Das aber wäre fatal: Die Sowjetunion war so gut wie pleite – und mehr denn je abhängig von westlichen Krediten.
"Man kann sich das heute nur noch schwer vorstellen: Wie viele Leute 1989, 1990 in diesem Haus waren. Es ging zu wie in einem Bienenstock. Leute sind ja nicht nur ein- und ausgegangen: Viele – ich zum Beispiel – haben den ganzen Tag hier gearbeitet. Wir hatten alle mögliche Komitees: Das Komitee für wirtschaftliche Erholung. Für Justiz. Oder Gesundheit. Es waren die Keimzellen der späteren Ministerien. Das war sehr wichtig. Als wir endlich unabhängig wurden, waren wir vorbereitet. Es hat sich ausgezahlt, dass die Friedliche Revolution nicht zuletzt eine Revolution der lettischen „Intelligenz“ war. Also: Filmemacher, Ärzte, Schriftsteller. Sie waren die Anführer – auch Vorbilder. Sie haben die Bevölkerung mitgerissen – und ihnen die Angst genommen."
"Ich war damals hochschwanger, deshalb habe ich mich nicht weit von der Uni, am Domplatz von Vilnius, in die Menschenkette eingereiht – also quasi da, wo der Baltische Weg auf litauischer Seite seinen Anfang nahm. Wir waren überglücklich. Wir haben alle gesungen, es war wirklich eine ganz besondere Atmosphäre. Allein schon dieses erhebende Gefühl: Zu wissen: Jetzt, in diesem Augenblick, halten sich zwei Millionen Litauer, Letten und Esten an den Händen. Vereint – für eine Sache."
Dalia Vaicenaviciene ist Musikhistorikerin an der Universität Vilnius. Der Unabhängigkeitskampf der drei Baltenstaaten Ende der 80er ging in die Annalen der Geschichte ein als "Singende Revolution".
Musik spielt eine wichtige Rolle
Musik spielt auch in der dritten Balten-Republik, in Estland, eine wichtige Rolle für die nationale Identität.
"Wir sind auf der Sängerwiese. Also, das ist dieser heilige Ort für die Esten. Wo alle fünf Jahre eben dieses große Sängerfest abgehalten wird. Mit 20 bis 30.000 Sängern auf der Bühne."
Chöre sind beliebt in Estland, dem kleinsten der drei Baltenstaaten. Das hat nicht zuletzt mit der Geschichte in der sowjetischen Zeit zu tun, betont Maris Hellrand, Musik-Expertin und eine der Organisatorinnen des Sängerfestes.
"Während der Nachkriegszeit waren Chöre eigentlich die einzigen Orte, wo man ein gesellschaftliches oder soziales Leben hatte, das relativ unkontrolliert war. Die Chöre waren noch die letzten Zellen der Demokratie."
Wie viel Freiraum den Chören gewährt wurde, hing nicht zuletzt vom Wohlwollen der kommunistischen Machthaber ab. In den 80er Jahren, erinnert sich Maris Hellrands Bekannter Enn Toom, hätten sie schon relativ viel Freiheit gehabt. Ganz anders Mitte der 60er. Der pensionierte Mathematiker kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. Da drüben, meint er und zeigt auf die Skulptur gegenüber der Bühne: da stehe der „Störenfried“. Gemeint ist Gustav Ernesaks, der berühmte estnische Dirigent und Komponist der inoffiziellen Hymne Estlands: „Mein Vaterland, meine Liebe.“ Genau dieses Lied wäre dem Komponisten Mitte der 60er fast zum Verhängnis geworden.
"Das war 1965, beim Liederfest. Ich saß damals zufälligerweise im Publikum, in einer der vorderen Reihen. Das Fest ging gerade zu Ende. Traditionellerweise hätten alle noch Ernesaks Hymne gesungen. Doch die Sowjets hatten das Lied auf den Index gestellt. Also war jetzt eigentlich Schluss. Doch die Chöre rührten sich nicht vom Fleck. Sie blieben auf der Bühne, bis sie spontan anfingen, die Hymne zu singen. Das bekam Gustav Ernesaks natürlich mit. Er sprang auf, um auf die Bühne zu gehen. Er wollte dirigieren. Aber ein paar Sowjet-Funktionäre hielten ihn fest. „Genosse Ernsesaks! Hiergeblieben!“ Doch der dachte gar nicht daran. Irgendwann hatte ein Ober-Funktionär Erbarmen. Ich erinnere mich noch, wie er nur zischte: Meine Güte! Dann lassen wir ihn halt auf die Bühne."
Lange Zeit arrangierte sich Enn Toom – wenn auch schweren Herzens, wie er sagt; er machte im Sowjet-System Karriere als Mathematiker. Erst Gorbatschows Politik der Glasnost und Perestroika rissen den Wissenschaftler aus seiner Lethargie. Plötzlich gab es Freiräume, keimte bei ihm und anderen Esten Hoffnung auf: dass sie die Sowjets doch noch loswerden könnten. 1987 schloss sich Toom der estnischen Oppositionsbewegung an, zwei Jahre später reihte er sich ein in die längste Menschenkette, die Europa je gesehen hatte.
Wie würden sich die Russen verhalten?
Ähnlich wie in Lettland stellte die russischsprachige Bevölkerung Ende der 80er in einigen Regionen Estlands die Bevölkerungsmehrheit, speziell in den Industriegebieten im Osten. Wie würden sich die Russen verhalten? Fragten sich im Sommer 1989 Maris Hellrand und andere besorgt.
"Der KGB war noch vollkommen aktiv. Noch 89 hat mich der KGB-Mensch in Tartu, von der Universität da, abgeholt und wollte mich anwerben. 89! Das war das Jahr, wo schon die erste Unabhängigkeitszeitung erschien. Aber die haben nicht so schnell aufgegeben."
Welche Macht der sowjetische Geheimdienst in den drei Baltenstaaten hatte, lässt sich gut in Riga nachvollziehen, der lettischen Hauptstadt. Genauer gesagt: in der "Brivibas Iela", der Freiheitsstraße Nummer 61.
"Das ist das ehemalige KGB-Gebäude. Es steht hier wie son schwarzes Loch, mitten in der Stadt."
Anna Muhka von der Stiftung "Riga 2014" führt Gäste häufiger hierher. Dieser Schreckensort, meint die ehemalige Exil-Lettin, die nach Stationen in Schweden und Deutschland wieder zurückgekehrt ist in die Heimat ihrer Eltern, stehe für all das, wogegen die Menschen 1989 auf die Straße gegangen seien.
"Gehen wir rein. Hier wurde man registriert. Hier wurde man nackt ausgezogen. Auf sehr demütigende Weise untersucht. Die persönlichen Gegenstände kamen in eine kleine Schublade. Man kennt das ja: Ich nehme an, dass das heute noch so ist, dass Gürtel und Schnürsenkel abgenommen werden. Aber was die KGB gemacht haben: Die haben auch Knöpfe und Reißverschlüsse abgeschnitten. Das ist ja eine reine Demütigung."
Sechs Etagen, mehr als 8000 Quadratmeter, dazu riesige Keller: Das ursprünglich als Wohn- und Geschäftshaus konzipierte Jugendstil-Gebäude mitten in Rigas Innenstadt war genau das, was der KGB 1940 im Visier hatte, als die Sowjetarmee in Lettland einmarschierte. In den Folge- Jahren mutierte das Gebäude zum Schreckensort der Besatzungsmacht – inklusive Exekutionsraum.
"Sehen Sie dort?! Sozusagen gepolstert, dass man die Schießgeräusche nicht hört. Ein Loch im Boden in der Ecke. Und dieser Raum, weiß man, befand sich hinter dieser Wand. (Türen knallen im Hintergrund) Und hier...(Klacken)...es gab Patronenhülsen, man hat also sehr gut rekonstruieren können, dass es weit über hundert Menschen waren, die hier erschossen wurden. Hier fuhr man dann rein. Mit den Wagen vom Hof. Und da war der Schießraum. Wir zeigen hier einfach einen kleinen Ausschnitt aus Andrzej Wajdas "Katyn", weil es wohl sehr ähnlich war."
Kritiker sprechen zwar von einem "Disneyland des Terrors", aber in Riga ist das "KGB-Gebäude" ein Publikumsmagnet. Lettische Historiker sehen in ihm einen authentischen Ort, an dem Geschichte "hautnah" vermittelt werden könne, wie es Danuta Dura ausdrückt. Die 35-jährige Lettin engagiert sich beim UNESCO-Projekt "Geschichten des Baltischen Wegs". Seit April können ehemaligen Teilnehmer in allen drei baltischen Staaten ihre Erinnerungen auf einer Website veröffentlichen.
Mit zehn Jahren an der Menschenkette teilgenommen
"Sie können da auch meine Geschichte finden. Ich habe ja selbst an der Menschenkette teilgenommen. Ich war damals zehn Jahre alt. Ich kam mir an diesem Tag schrecklich wichtig vor, weil meine Eltern mich und meine Schwester mitnahmen. Normalerweise ließen sie uns immer zu Hause, wenn sie demonstrieren gingen. Ich fühlte mich sehr, sehr verantwortungsbewusst. Wie eine Erwachsene. Ich erinnere mich noch an die vielen Autos. Und an meine Haarbänder. Ich hatte damals langes Haar. Ich nahm alle meine Haarbänder mit, für den Fall der Fälle. Man wusste ja nicht, ob genügend Leute da sein würden, um die Menschenkette zu bilden. Falls nicht – hatten wir uns gedacht – hätten wir kräftig an den Bändern gezogen – und die Menschenkette so künstlich verlängert. Aber das war gar nicht notwendig."
Die Historikerin, die jahrelang im Okkupations-Museum von Riga arbeitete, kann sich noch gut an die Zeit erinnern, als sich Lettland aus der sowjetischen Umklammerung löste.
"Alle hatten wirklich die Schnauze voll vom Sowjet-System. Selbst unpolitische Leute wie mein Vater. Dem war es eigentlich die ganze Zeit egal gewesen, ob Lettland unabhängig war oder nicht. Jetzt aber war er für die Unabhängigkeit. Einfach weil das Sowjet-System so absurd war. Wir lebten damals auf dem Land, in einem Dorf mit lauter Kühen. Aber glauben Sie, es gab bei uns in den Geschäften Butter? Nein! Wenn wir als Letten Butter kaufen wollten, mussten wir nach Sankt Petersburg fahren. Unsere Butter wurde dort verkauft. Verrückt, nicht?! Die Leute hatten es einfach satt. Sie wollten, dass sich etwas ändert. Ich glaube, vielen war 1989, 1990 noch gar nicht bewusst, dass ihr Protest dazu führen würde, dass der Staat Lettland wiederaufersteht. Sie sahen einfach nur: Das bestehende System funktioniert vorne und hinten nicht."
Großer Bahnhof in Riga. 25 Jahre Baltischer Weg. Da lassen es sich die drei Premierminister der Baltenstaaten nicht nehmen, an einer internationalen Konferenz über das „Erbe des Baltischen Wegs“ teilzunehmen – Kranzniederlegung inklusive. Viel Symbolik. Doch vielen Letten kann es gar nicht symbolisch genug sein – in Zeiten wie diesen. Samirte Elerte, die Ex-Aktivistin, verzieht im Museum der Volksfront unmerklich das Gesicht. Man könne aus der lettischen Geschichte ein paar ganz gute Schlüsse ziehen, meint sie. Dass Lettland als kleines Zwei-Millionen-Einwohner-Land Verbündete brauche. Und sich seine Nachbarn nicht aussuchen könne. In Lettland weiß jeder was und wer gemeint ist: Russland.
"Wir sehen doch: Russland lügt die ganze Zeit. Besonders über seine Engagement in der Ukraine. Putin ist sehr aggressiv. Er sieht Russland als Nachfolger des Zarenreiches und der Sowjetunion. Das macht uns Letten natürlich Angst – trotz unserer NATO- und EU-Mitgliedschaft. Wir sollten auf jeden Fall unsere Verteidigungsbereitschaft erhöhen. Allein schaffen wir das nicht. Da sind die Deutschen gefordert, Europäer und US-Amerikaner."
Estland, der nördlichste der drei Baltenstaaten hat nicht nur eine lange gemeinsame Grenze mit Russland, sondern, ähnlich wie Lettland, eine hohe Anzahl russisch-sprachiger Bürger. Wie verhalten die sich? Speziell in Narva, wo sie die Mehrheit stellen? Diese Frage beschäftigt auch Maris Hellrand, die Frau vom estnischen Liederfest.
Die östliche Bedrohung
"Ich war gerade vorgestern in Narva: Bin auch sehr skeptisch hingefahren und hab gedacht: Was höre ich da? Aber eigentlich hat es ein Mann sehr gut zusammengefasst, der damals, in den 90ern, in dem pro-sowjetischen Lager aktiv war. Wie das alte russische Sprichwort sagt: Ein Fisch sucht, wo es tiefer ist. Ein Mensch, wo es besser ist. Und das fasst es eigentlich zusammen: Die Russen in Narva sind in einer halben Stunde in Russland und sehen wie das Leben dort ist. Wie die Straßen sind; wie die Krankenhäuser sind; wie das Sozialsystem ist. Und auch wenn’s denen in Narva vielleicht nicht so prächtig geht wie uns hier in Tallinn, ist das immer noch viel, viel besser als über der Grenze."
Die östliche Bedrohung: Auch in Litauen, dem südlichsten der drei baltischen Staaten, ist das ein Thema. Die Feierlichkeiten zum 25. Jubiläum des Baltischen Weges in Vilnius waren überlagert vom Ukraine-Konflikt. Oder, wie es Marus ausdrückt, der Sohn von Dalia Vaicenaviciene, der musizierenden Ex-Oppositionellen: "Dass ein Volk Spielball eines anderen wird." Für den jungen Litauer ist das Erbe des Baltischen Weges lebendiger denn je.
"Am 23. August haben wir auf dem großen Musikfestival in Vilnius gespielt. Es war wirklich bewegend. Bei unserem letzten Song hat das Publikum Kerzen angezündet – in Erinnerung an den Baltischen Weg, aber auch an das, was gerade in der Ukraine passiert. Viele Litauer fühlen sich den Ukrainern verbunden, gerade wir jungen Leute. Ich sehe definitiv Ähnlichkeiten zwischen der russischen Okkupation Litauens und der Ukraine. Denken Sie nur an die Krim. Ich würde sagen, beim Jubiläum des Baltischen Weges ging es fast schon mehr um die Ukraine als um Litauen."
Parallelen zwischen den drei baltischen Staaten und der Ukraine sehen auch viele Letten. Doch gebe es auch Unterschiede, konstatiert Samirte Elerte.
"Ich denke, unsere große Leistung war, dass wir unsere Chance genutzt haben - diesen kleinen Spalt in der Geschichte. In dem wir all unsere Kräfte mobilisierten. Und einen Plan hatten. Demonstrieren – das allein reicht nicht! Wir hatten eine klare Idee davon, wohin die Reise gehen soll. Das unterscheidet uns von der Ukraine. Unglücklicherweise hat die Ukraine diesen kleinen Spalt nicht zu nutzen gewusst."
Traurig sei das, meint die Frau, die mit dafür gesorgt hat, dass die Menschenkette des Sommers 1989 zum Meilenstein wurde - auf dem langen Weg Lettlands, Litauens und Estlands zur Unabhängigkeit.
"Geschichte wird nicht geschrieben. Geschichte wird gemacht – von Menschen."