Ballettakademie der Wiener Staatsoper

Sonderkommission rügt grobe Mängel beim Kinderschutz

07:13 Minuten
Von der Bolschoi-Akademie organisiertes Probetanzen am MAT (Movimento Artistico Ticinese) in Lugano.
Muss professioneller Balletttanz immer auch Drill bedeuten? © picture alliance/KEYSTONE/Alessandro Crinari
Elisabeth Nehring im Gespräch mit Gaby Wuttke · 17.12.2019
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An der Ballettakademie der Wiener Staatsoper ist der Kinderschutz grob missachtet worden. Das hat eine Sonderkommission festgestellt. In deren Bericht ist von einer großen Überforderung der Kinder und Jugendlichen die Rede – ihnen sei gar zum Rauchen geraten worden, um das Gewicht zu halten.
Gaby Wuttke: Der Thomanerchor in Leipzig, die Domspatzen in Stuttgart: Dass zu Disziplin und Drill über Jahrzehnte auch die Demütigung von Kindern gehörte, ist inzwischen bekannt. Genau solchen Vorwürfen ist eine Sonderkommission im Auftrag des österreichischen Kulturministeriums nachgegangen – in der Ballettakademie der Wiener Staatsoper. Heute ist der Bericht veröffentlicht worden. Auch Tanzkritikerin Elisabeth Nehring hat ihn gelesen. Inwiefern ist der Kinderschutz grob missachtet worden?
Elisabeth Nehring: Die Missachtung des Kinderschutzes betrifft Felder wie Diskriminierung, Vernachlässigung sowie gesundheitliche Beeinträchtigung. Im Bericht ist die Rede von einer unterentwickelten Kommunikationsstruktur vonseiten einiger Ballettpädagoginnen und -pädagogen, von erniedrigenden Kommentaren, Maßregelungen zum Essen, vermeintlich ästhetischen Anforderungen, die Ballettschülerinnen und -schüler erlebt hätten. Und in der heutigen Vorstellung des Kommissionsberichts war dann ganz konkret als Beispiel die Rede davon, dass Kindern geraten worden sei, mit dem Rauchen anzufangen, um das Gewicht zu halten, ...
Wuttke: Wie bitte?
Nehring: ... oder dass Kinder im Unterricht mit Vornamen und Konfektionsgrößen angesprochen worden seien. Also das betrifft den Bereich der psychischen Demütigung. Es hat aber auch eine Reihe von Vernachlässigungen gegeben, die sowohl psychische, aber auch körperliche Beeinträchtigungen nach sich ziehen, zum Beispiel: Die Kinder müssen ja nicht nur zum Training, sie müssen auch in die Schule, sie müssen sich auf Wettbewerbe vorbereiten und wohl auch sehr viel auf der Bühne stehen. Insgesamt sei es dadurch auch zu einer großen Überforderung der Kinder und Jugendlichen gekommen. Und die medizinische und die therapeutische Versorgung werden als unzulänglich bezeichnet.

80 Prozent der Auszubildenden kommen aus dem Ausland

Es gibt keine auf die Bedürfnisse von Balletttänzerinnen und -tänzern abgestimmte Ernährung, es gibt keine kontinuierliche Begleitung durch Ernährungsberater, Psychologen und Physiotherapeuten, es hätte wohl keinen guten Umgang mit Essstörungen gegeben, stattdessen eben besagte Bodyshaming-Methoden. Also zusammenfassend schreibt der Bericht, dass an der Akademie das Bewusstsein fehlt, dass sie als Institution für die Gesundheit der Kinder im hohen Maß verantwortlich ist – und nicht das Internat und nicht die Eltern.
Das ist besonders problematisch, weil 80 Prozent der Auszubildenden aus dem Ausland kommen. Das heißt, sie haben keine familiären Ansprechpartner in der Nähe, oft auch niemanden in ihrer Muttersprache, und sie würden deswegen eben eines besonderen Schutzes vonseiten der Institution bedürfen – und die hat das offensichtlich vollkommen vernachlässigt.
Wuttke: Dieses Schweigekartell, so muss man es ja wohl nennen, hat Anfang dieses Jahres eine Lehrerin gebrochen, und Staatsoperndirektor Dominique Meyer hatte dann darauf zum Beginn der Untersuchung eine besonders rabiate Lehrerin entlassen, kürzlich aber noch auf die berufliche Erfolgsquote der jungen Menschen verwiesen. Heute hat er diesen Bericht der Sonderkommission nun vehement zurückgewiesen. Kann ein Ministerium das auf sich sitzen lassen?
Nehring: Ja, ich denke, da ist der Bericht ganz klar. Der Bericht bezieht sich ja auch auf Nachbesserungen. Es gab ja einen Zwischenbericht im Sommer, daraufhin hat die Akademie Nachbesserungen versucht. Es wurde zum Beispiel eine Kinderschutzbeauftragte eingestellt. Der Bericht schreibt nun, dass sogar bei der Ausschreibung dort Fehler gemacht wurden. Und insgesamt erschienen der Kommission diese Maßnahmen zur Verbesserung wohl unzureichend, unorganisiert, wörtlich heißt es, "weniger am Kindeswohl orientiert als eher daran, den Eindruck zu erwecken, aktiv zu sein". Und insgesamt ist, glaube ich, sehr wichtig, dass der Bericht deutlich macht, dass es hier nicht nur um einzelne Pädagoginnen und Pädagogen geht oder einzelne Verfehlungen, sondern dass auch und vor allem die Leitungsebene versagt hat in ihrer Funktion, Kontrolle und Transparenz auszuüben.
Das heißt, die Probleme sind einerseits personell und andererseits strukturell. Die Institution wird offensichtlich intransparent und ohne klare Verteilung von Verantwortungsbereichen geführt. Das hat der Bericht herausgefunden. Der künstlerische Leiter, Manuel Legris – er ist ja auch der Leiter des Wiener Staatsballetts – wie auch die Direktorin der Akademie hätten sich beide nicht ausreichend um Kontrolle bemüht.
Es hat dann auch so was gegeben wie intransparente Verfahrensabläufe, warum jemand welche Noten erhält, welche Klasse überspringen kann, all das ist immer nicht klar gewesen. Und das ist ganz wichtig: Es hat eine Reihe von Verfehlungen und Vernachlässigungen gegeben, die diese Zustände überhaupt erst möglich gemacht haben. Und, das als Letztes, das ist das Entscheidende: Es hat wohl auch überhaupt kein Bewusstsein dafür gegeben, dass es dadurch zu einer körperlichen wie auch seelischen Gefährdung von Auszubildenden gekommen ist.
Wuttke: Aber das Bewusstsein scheint ja bis heute beim Staatsoperndirektor vorzuherrschen. Stehen dann personelle Konsequenzen zumindest im Raum?
Nehring: In den Handlungsempfehlungen der Sonderkommission steht das nicht direkt. Da heißt es, die verantwortliche Leitungsebene der Staatsoper müsse sich, "der Ernsthaftigkeit und Tragweite der Thematik voll bewusst werden". Es ist natürlich schon anzunehmen, dass die besagten einzelnen Pädagogen und Pädagoginnen, die im Bericht nicht namentlich genannt werden, nicht unbedingt bleiben können.
Aber das muss man ja auch sagen, und das stimmt wiederum hoffnungsvoll: Im nächsten Jahr wird es ja sowieso einen ganz großen Wechsel geben. Manuel Legris wird als Direktor des Wiener Staatsballetts und damit eben auch als künstlerischer Leiter der Ballettakademie von Martin Schläpfer abgelöst, und unter dem wird das sicherlich anders laufen.
Wuttke: Und Dominique Meyer geht ja auch.
Nehring: Ganz genau.

Die Ballettausbildung ins 21. Jahrhundert zu überführen

Wuttke: Ganz prinzipiell mal die Frage: Muss professioneller Balletttanz überhaupt Drill bedeuten?
Nehring: Absolut nicht. In jedem Fall Disziplin, sehr strenge Disziplin, auch vor allen Dingen Selbstdisziplin, das ja. Aber ich würde mal sagen, wir haben das Jahr 2019 – und da erreicht man das als Pädagoge nicht mit einem herabwürdigenden Verhalten.
Im Gegenteil muss es darum gehen, die Kinder zu stärken, die Kinder und Jugendlichen, gerade in Vorbereitung auf diesen ja sehr anstrengenden und harten Beruf. Es muss um den wertschätzenden Umgang der Lehrer mit ihren Auszubildenden gehen und gerade nicht nur um dieses völlig idiotische Denken wie früher: Wir müssen die jungen Menschen brechen. Und ich finde es schon ganz vielsagend, wenn eine Kommission im Jahr 2019 empfiehlt, bitte endlich die Ballettausbildung an der Akademie in Wien ins 21. Jahrhundert zu überführen.
Wuttke: Was dieser Bericht aus Wien belegt: Ist es zu hoffen, dass es sich um einen Einzelfall handelt, oder würden Sie sagen, anderswo könnte ähnlich Schreckliches herauskommen, wenn man es untersucht?
Nehring: Ja, man weiß das natürlich erst, wenn die Betroffenen darüber sprechen. Das ist ja oft das aller-, allergrößte Problem, dass viel zu lange geschwiegen wird. Aber ja, ich fürchte, dass diese völlig veralteten Strukturen, von denen wir jetzt hier gehört haben, nicht die Spezialität nur der Ballettakademie in Wien sind.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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