Ballett als Gesamtkunstwerk

Von Malve Gradinger · 19.08.2009
Sergei Pawlowitsch Diaghilew gilt als eine der größten Persönlichkeiten der jüngeren Tanzgeschichte. Der Gründer des Ensembles Ballets Russes, dessen Todestag sich zum 80. Mal jährt, hat das Ballett revolutioniert.
Gewöhnlich sind es Tänzer und Choreographen, die Ballettgeschichte schreiben. Obwohl oder gerade weil Sergei Diaghilew weder das eine noch das andere war, muss man ihm diesen historischen Verdienst zuerkennen. Er hatte bei Rimski-Korsakow studiert, mit Malerfreunden die Zeitschrift "Mir Iskustva" ("Die Welt der Kunst") ins Leben gerufen. Und aus der Perspektive der Musik und der bildenden Kunst ergab sich, glücklicherweise, Diaghilews Vision einer Neugestaltung von Ballettproduktionen.

Die jüngere Ballettgeneration hielt Marius Petipa, 50 Jahre lang führender Choreograph des St. Petersburger Marien-Theaters, ohnehin für überholt. Seine Ballette erzählten zwar eine Geschichte, aber noch in der aristokratisch klassischen Form einer Reihung von solistischen und Ensemblenummern. Wobei die sogenannten Divertissements rein virtuos tänzerischen Charakter hatten.

In Opposition zu Petipa fordert der junge Mikhail Fokine schon 1904 eine sinngebende Einheit von Handlung, Musik, Malerei und tänzerischer Bewegung. Er stellt dringliche Fragen wie: "Warum macht ein Tänzer schwierige Schritte, wenn sie nichts ausdrücken?"

Beeinflusst von den freien Bewegungen der amerikanischen Ausdruckstänzerin Isadora Duncan, erlöst er den Oberkörper aus seiner senkrechten Starre. Die Arme, nach klassischem Kodex stets streng geführt, durften jetzt schweben, in der Musik atmen, Gefühle mitteilen. Sein berühmtes Solo "Der sterbende Schwan" ist dafür ein Beispiel par excellence. Und im Sinne der dramatischen Wahrhaftigkeit wurde auch der männliche Tänzer, bis dahin degradiert zum "Ballerinenstützer", tänzerisch gleichberechtigt.

Neue Ideen, neue Tendenzen lagen also in der Luft. Der Mann, der sie zu einem Gesamtkunstwerk zusammenführte, war Diaghilew, ein geborener Ermöglicher. Selbstbewusst schreibt er an seine ihn ermutigende Stiefmutter: "Ich habe alles Notwendige dafür außer Geld – aber das wird kommen."

Sein Anfangskapital waren tänzerisch so atemverschlagende, in russischer Schule geschliffene Tänzer wie Anna Pawlowa, Tamara Karsawina, Adolf Bolm, das junge Genie Waslaw Nijinsky. Außerdem der Bilderstürmer Mikhail Fokine. Und dann die eigene Begabung, heute würde man sagen, zum Macher.

So wie ihn auch Alexandre Benois schon in der "Mir-Iskustva"-Zeit charakterisiert:

"In keiner Kunstgattung wurde er wirklich schöpferisch tätig: und trotzdem war sein Tun und Wirken zweifellos – schöpferisch... Dieser despotische Menschenmanipulator nötigte Künstler, zu ihrer eigenen Kreativität vorzustoßen und sie zu verwirklichen."

Im Banne von Diaghilews Willenskraft kreierten Avantgardemusiker und -maler, auch Literaten wie Boris Kochno und Jean Cocteau für die Ballets Russes – und zwar in gegenseitiger Inspiration. Jetzt also kein zaristisch überfrachtender Ballettdekor mehr, auch keine gefälligen Taktgebermusiken à la Minkus und Drigo. Für Diaghilew komponieren Igor Strawinsky, Maurice Ravel, Claude Debussy, Eric Satie, Sergei Prokofjew und Francis Poulenc und viele andere bedeutende Namen. Die Malerfreunde aus St. Petersburg: Alexandre Benois, Léon Bakst und Nicolas Roerich entwerfen, der damaligen Jugendstileuphorie und den exotischen Libretti entsprechend, farbüppige Landschaftsprospekte und phantastische Kostüme. Mit Picasso-Ausstattungen wird es später auch kubistisch.

Ganz Paris, gelangweilt von seiner anämisch gewordenen Ballettszene, gerät in euphorischen Taumel bei Fokines "Scheherazade", seinem "Feuervogel" und "Les Sylphides", ist entzückt und empört bei Nijinskys erotischem "Faun" und seinem archaisch stampfenden "Frühlingsopfer". Nach den orientalisch, russisch-folkloristisch und romantisch ausgerichteten Balletten war dieses Strawinsky-Ballett ein totaler Bruch mit der Tradition, ein Tor zu weiterer Veränderung und Erneuerung – so wie es Diaghilew wollte.

Dass der große Impresario, der nach außen den Dandy blasé mit Monokel spielte, auch emotional in das Leben seiner Truppe hineinwirkte, dass er mit Nijinsky und anderen Choreographen Verhältnisse hatte, ist Teil der – oft schmerzhaften – menschlichen Geschichte.

Die Tanzgeschichte verdankt Diaghilew den Aufbruch in die Moderne. Nach Fokine und Nijinsky folgen noch Leonide Massine, noch Nijinskys Schwester Bronislawa Nijinska, Serge Lifar und George Balanchine – dessen Neoklassik noch heute unsere Bühnen beherrscht, aber selber auch schon von neuen Bilderstürmern wie William Forsythe in die Postmoderne fortgeschrieben wurde.