Bahnhofsmission Berlin Zoo

"Wir versuchen, Menschen auf Augenhöhe zu begegnen"

Der Leiter der Bahnhofsmission am Bahnhof Zoo in Berlin, Dieter Puhl, aufgenommen 2014 in Berlin
Als Dieter Puhl vor zehn Jahren in die Bahnhofsmission kam, stand sie vor der Pleite. Puhl hat es geschafft, eine solide Finanzierung zu sichern. © dpa / Soeren Stache
Von Kemal Hür · 22.08.2018
Er möchte Obdachlosen helfen, menschenwürdig zu leben: der Leiter der Bahnhofsmission Berlin Zoo. Statt von Klienten spricht Dieter Puhl von Gästen. Viele von ihnen hat er sterben sehen. Aus der Traurigkeit und Wut darüber zieht er auch Kraft.
"Danke für alles. War echt schön hier, tolles Praktikum."
"Wir sehen uns wieder?"
"Ja, wir sehen uns auf jeden Fall wieder."
Zwei junge Frauen, 17 und 21 Jahre alt, verabschieden sich nach einem vierwöchigen Praktikum in der Berliner Bahnhofsmission. Dieter Puhl, der Leiter der Einrichtung am Bahnhof Zoo, zweifelt keinen Augenblick daran, dass die beiden Frauen irgendwann wiederkommen werden.
"Man freut sich auf neue Leute. Das ist aber auch ein ganz, ganz kleiner Stich im Herzen, wenn man 'tschüss' sagen muss. Manchmal sieht man sich ja aber wieder. Wir könnten nach hinten gehen. Da ist eine Kollegin, von der habe ich mich vor drei Jahren verabschiedet. Sie kam aber wieder und hat jetzt einen Festvertrag hier."
Ein Bedürftiger nimmt am Dienstag (03.07.2012) an der Essensausgabe in der Bahnhofsmission am Bahnhof Zoo in Berlin seine Essensration von einer Mitarbeiterin entgegen.
Essensausgabe in der Bahnhofsmission am Bahnhof Zoo in Berlin.© picture alliance / dpa / Sebastian Kahnert
Der 61-jährige Puhl hat 23 hauptamtliche und 200 ehrenamtliche Mitarbeiter. Hinzu kommen Praktikanten und temporäre Helfer. Puhl ist kein abgehobener Chef. Er ist ein emotionaler Mensch. Seine offene Art ist an seinem Arbeitsplatz sofort zu erkennen. Als Leiter der Bahnhofsmission hat er ein winziges Büro, das eher eine fensterlose Kammer ist. Seine Tür steht immer offen und macht den Blick frei auf den Flur, durch den die Obdachlosen in den Speiseraum gehen. Für Dieter Puhl sind sie Gäste.
"Worte sind auch Programm. Spreche ich von einem so genannten Klienten, werde ich mir den Menschen wahrscheinlich auch immer ein Stück entfernt halten. Gäste bedeutet für mich, wir möchten versuchen, Menschen auf Augenhöhe zu begegnen."

Viele hat Dieter Puhl sterben sehen

Worte sind Programm – das gilt auch für Puhl. Auf Augenhöhe bedeutet deswegen, dass er mit seinen Gästen öfter mal zusammen vor der Bahnhofsmission eine Zigarette raucht. Viele hat er sterben sehen. Von einigen hängen Fotos im Flur: Kathi, zum Beispiel, die mit 48 Jahren gestorben ist.
"Daneben hängt das Foto von Jannek, 58 Jahre, ein wunderbarer polnischer Mensch, dem ich jeden Morgen begegnet bin, der mich anguckte und sagte, Dieter, ich hab heute Geburtstag. Und jeden Morgen blieb ich stehen und sagte: Jannek, dann sollten wir eine zusammen rauchen. Jannek ist 100 Meter weiter verfault. Siggi, anderes Foto, ein kleines Farbfoto, im Rollstuhl sitzend, 63 Jahre alt, kam jeden Abend sturzbetrunken rein, eingekotet bis zum Hals. Jeden Abend haben wir ihn geduscht, neu eingekleidet…"
Schicksale, die schwer zu ertragen sind, denen der Leiter der Bahnhofsmission aber nicht aus dem Weg gehen kann – und auch nicht gehen will. In Berlin gibt es schätzungsweise 6000 obdachlose Menschen. Nicht alle kommen zur Bahnhofsmission und nicht allen ergeht es wie Jannek und Siggi. Aber es sind Geschichten, die Dieter Puhl seit zehn Jahren täglich erlebt.
Mit Bedürftigen spricht am 20.08.2015 vor der Bahnhofsmission am Zoo in Berlin eine Mitarbeiterin der Einrichtung. Die Berliner Verkehrsbetriebe BVG und die Berliner Stadtmission stellen am Vormittag ihre Kooperation vor. Foto: Rainer Jensen/dpa
Eine Helferin der Bahnhofsmission am Zoo in Berlin spricht mit einem bedürftigen Menschen © dpa / picture alliance / Rainer Jensen
"Ich habe als junger Student gelernt, dass du die Geschichten nicht mit nach Hause nehmen sollst, dass du dich abgrenzen sollst. Wir haben hier auch Supervision. Das ist wichtig. Ab und an will ich die Traurigkeit, die Wut, die Verzweiflung aber auch mit nach Hause nehmen, weil daraus eine Kraft entstehen kann, nämlich die Kraft, vielleicht zu Hause zunächst gegen die Schrankwand zu treten, am nächsten Tag aber zu sagen: Den ganzen Mist mache ich nicht mehr mit. Wir müssen etwas verändern."

Obdachlosen helfen, menschenwürdig zu leben

Mit dem Anspruch, etwas verändern zu wollen, hat Dieter Puhl vor zehn Jahren die Leitung der Bahnhofsmission übernommen. Eine Berliner Tageszeitung nannte den evangelischen Missionsleiter einen "Mann, der die Unsichtbaren sieht". Diese Umschreibung gefällt Puhl. Denn er will den Obdachlosen helfen, menschenwürdig zu leben. In der Bahnhofsmission bekommen sie dreimal am Tag zu essen, können hier duschen und erhalten gespendete Bekleidung. Aber zur Menschenwürde gehört mehr, sagt Dieter Puhl in der Kleiderkammer.
"Ich sehe da unten Rucksäcke. Und Rucksäcke haben für mich eine tolle Symbolik. Wenn du mit einer blöden Plastiktüte durch die Gegend gehst, outest du dich selbst als so genannter Penner. Vielleicht ist die letzte Erinnerung, die ein obdachloser Mensch an sein bürgerliches Leben hat, das Foto seiner Kinder. Dann ist immer die Frage damit verbunden, wo bewahrst du es überhaupt auf. Wenn uns jemand einen Rucksack bringt, ein Rucksack ist immer das erste Resozialisierungsprogramm für einen obdachlosen Menschen wieder zu mehr Ordnung. Bitte her damit."
Als Dieter Puhl vor zehn Jahren in die Bahnhofsmission kam, stand sie vor der Pleite. Puhl hat es geschafft, eine solide Finanzierung zu sichern und der Institution zu einem großen Ansehen zu verhelfen. Künstler und Politiker, sogar zwei Bundespräsidenten, besuchten die Räume unter dem Bahnhof Zoo und schenkten hin und wieder Kaffee aus. Das ist Puhls Verdienst, der zugibt, eitel zu sein, von sich aber dennoch nicht als Chef spricht.
"Ich bin der Leiter, Jesus ist der Chef. Ich erzähle gerne von Jesus. Jesus liebt Mannschaftssport. Jesus kann segnen, und Jesus kann in unserem Leben guten tragenden Rückenwind machen. Den brauchen wir, glaube ich, übrigens alle. Was Jesus leider nicht macht, ist: Jesus schreibt leider keine Zuwendungsanträge."
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