Bären-Favoriten

"Der wirklich große Film hat gefehlt"

Szene aus "Toivon tuolla puolen" ("Die andere Seite der Hoffnung) von Aki Kaurismäki.
Der syrische Flüchtling Khaled landet bei Restaurantbesitzer Wikström: eine Szene aus Aki Kaurismäkis Film "The Other side of Hope". Er wird als Favorit für den Goldenen Bären gehandelt. © Malla Hukkanen © Sputnik Oy
Patrick Wellinski im Gespräch mit Ute Welty · 18.02.2017
Ein durchwachsener Wettbewerb, aber ein klarer Favorit: So lautet das Fazit unseres Film-Redakteurs Patrick Wellinski über die Berlinale. Er setzt auf Aki Kaurismäkis Beitrag "The Other Side of Hope". Auch der chinesische Film "Have a nice day" könnte Chancen haben.
Ute Welty: Heute Abend wird er verliehen, der Goldene Bär der 67. Berlinale, die Jury um ihren Präsidenten Paul Verhoeven wird dann im Berlinale-Palast verkünden, welcher der 18 Wettbewerbsfilme ausgezeichnet wird. Wir wollen aber schon heute früh Bilanz ziehen. Filmredakteur Patrick Wellinski hat sich deswegen aufgemacht in Richtung "Studio 9". Guten Morgen!
Patrick Wellinski: Guten Morgen!
Welty: Gestern liefen ja noch zwei Wettbewerbsbeiträge, die sich Hoffnungen auf einen Bären machen könnten, Produktionen aus China und aus Rumänien. Konnte denn einer der beiden Filme das Feld von hinten aufrollen?

"Have a nice day" aus China hätte einen Preis verdient

Wellinski: Ja, schon. Ich würde sagen, der chinesische Film. Es gibt ja auch den Preis, den die Jury verleiht, der Alfred-Bauer-Preis, der für einen Film verliehen wird, der künstlerische Perspektiven eröffnet, und bisher gab es noch keinen, ehrlich gesagt, aber dieser Chinesische hat schon das Potential. Es ist ein Animationsfilm, "Have a nice day".
Es ist ein Film, den hätte auch Tarantino oder die Cohen-Brüder hätten den machen können. Es geht um einen Koffer voller Geld, eine Million Yuan, und der gerät dann im Verlaufe des Films immer in andere Hände, und dieser Koffer voller Geld bringt immer das Hässliche in den Menschen hervor, also es ist auch sehr viel Gewalt im Spiel. Das sieht nicht nur gut aus, das muss man sich vorstellen wie so einen Comicstrip, der sich vor uns so langsam aufblättert.
Der Film ist aber auch in so einer gewissen sozialen Realität verankert. Wir hören Donald Trump im Radio, die Menschen sprechen davon, sie brauchen das Geld, um der nächste Zuckerberg oder Bill Gates zu werden. Da ist eine sehr große Frustration dahinter, und ich fand den Film auch dadurch auch sehr aktuell und sehr gut, und ich würde mich sehr freuen, wenn er einen der Preise bekommt.

"Ana, mon amour" aus Rumänien

Welty: Und der rumänische Film "Ana, mon amour", hat der einen Wettbewerbsvorteil, weil Regisseur Calin Peter Netzer ja schon einen Bären hat oder ist es eher ein Nachteil?
Wellinski: Ich glaube, es wäre ein Vorteil, wenn der Film etwas besser wäre. Ich glaube, die Jury guckt schon so auf die Qualität. Es ist ein sehr intensiver Film. Man kann sich dem gar nicht entziehen, man fühlt mit. Es geht um ein Pärchen, Ana und ihr Freund. Ana ist halt depressiv, und so wie diese Phasen in dieser Krankheit sich ausspielen, so spielt sich auch diese Beziehung vor uns aus, und dann macht der Film etwas, wo ich fand, das ist vielleicht ein dramaturgischer Fehler: Er erzählt das chronologisch, das heißt, Schnitt, und wir sind vielleicht fünf Jahre in der Zukunft, Schnitt, wir sind dann sieben Jahre in der Vergangenheit. Irgendwann verliert sich das. Es verliert sich auch der Sinn dahinter.
Ich fand das sehr schade, aber das ist auch ein Film, der sehr viel durch die Kamera erzählt. Also das Wort Kameraarbeit nahm der Kameramann sehr ernst, denn was er hier mit der Kamera macht, er kriecht ins kleinste Loch, in jedes Zimmer. Das ist schon sehr intensiv, aber das ist kein Film, glaube ich, der diese Berlinale so überstrahlt, dass er den Goldenen Bären oder so verdient.

Aki Kaurismäkis Film stach im Wettbewerb heraus

Welty: Wie schätzen Sie denn den Wettbewerb der 67. insgesamt ein?
Wellinski: Er war durchwachsen, da muss man ganz ehrlich sein. Es gab nicht wirklich diesen einen Film, dessen Bilder sich über alle anderen gelegt hätten. Den habe ich auch so ein bisschen vermisst. Es gab aber fünf, sechs solide Werke, von denen vor allem Aki Kaurismäkis Film "The other side of hope" herausstach, weil das auch ein Regisseur ist, der sich nie selbst betrogen hat, der immer seinen Film gemacht hat, der es geschafft hat, unsere Welt und unsere Realität unter seinen Aspekten, dieser Stummfilmästhetik, der er da so ein bisschen folgt, zu unterwerfen. Das fand ich sehr schön.
Mir gefallen auch, ehrlich gesagt, die Beiträge aus Asien, die von so einer gewissen Erosion sozialer Verhältnisse erzählten, dass die Familie auch nicht mehr das letzte Auffangnetzes eines Menschen sein muss, wenn die Gesellschaft drum herum verrückt wird. Überhaupt, viele Filme erzählten auch vom Verlassenwerden und Weggehen vor allem männlicher Figuren – das muss man auch an dieser Stelle sagen. Also es gab schon Themen, mit denen sich das Weltkino beschäftigt hat, aber es gab, wie gesagt, nicht diese ganz großen Ausreißer, diese Monolithen, über die wir jetzt vielleicht noch in sieben Monaten sprechen würden.

Kritik an "gleicher Tonlage" bei den deutschen Filmen

Welty: Was ist mit den deutschen Beiträgen?
Wellinski: Ja …
Welty: Hmm …
Wellinski: Die waren jetzt auch nicht so berauschend, muss man sagen, wobei je nachdem, wer hier gerade stehen würde, würde wahrscheinlich sagen, der eine mag den Schlöndorff-Film dann doch etwas mehr als der andere. Der andere konnte mit "Helle Nächte" von Thomas Arslan nicht so viel anfangen. Die Dokumentation "Beuys" von Andres Veiel, die ist schön, das ist eine richtig gute Materialsammlung, aber auch das wirkte so wie ein Fremdkörper im Wettbewerb.
Mein Problem mit den deutschen Beiträgen war, dass sie die gleiche Tonlage bedienen, und dann laufen im Nebenraum andere deutsche Filme, die zeigen, dass das Kino auch wilder, lauter, so ein Energydrink sein kann. Wenn man das schon sagt, wir präsentieren deutsche Filme im Wettbewerb, dann kann man doch auch versuchen, unterschiedliche Tonlagen zu bedienen. Das fand ich etwas schade.

Spekulationen und ein möglicher Sieger ...

Welty: Wer wird es denn nun? Wir müssen ja ein bisschen spekulieren, aber wer wird denn heute Abend der große Sieger sein?
Wellinski: Eigentlich kann es nur einen geben. Eigentlich kann es nur Aki Kaurismäki geben, der seine Karriere auf der Berlinale vor vielen Jahren begann in der Sektion "Forum", der dann ganz lieb gefragt hat, darf ich auch mal nach Cannes gehen, dann haben sie ja gesagt, dann kam er nie wieder, und jetzt hat er noch einen Film gedreht, extra für die Berlinale, habe ich so das Gefühl. Es geht gar nicht anders, er muss diesen Bären bekommen.
Welty: Wir werden heute Abend mehr wissen. Patrick Wellinski, herzlichen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.