Bach mit Leidenschaft

Von Jörn Florian Fuchs |
Die 1967 durch Herbert von Karajan ins Leben gerufenen Salzburger Osterfestspiele zählen zu den Höhepunkten der jährlichen Festspielsaison. Traditionell bestreiten denn auch die Berliner Philharmoniker einen Gutteil des Programms. In diesem Jahr sorgten sie, dirigiert von Sir Simon Rattle, mit ihrer Interpretation von Bachs Johannespassion für eine Sternstunde des Festivals.
Es ist Karfreitag im Großen Festspielhaus zu Salzburg. Andächtige Spannung herrscht auf der Bühne wie im Zuschauerraum. Es ist Zeit für Bachs Johannespassion, interpretiert von den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle. Und höre da: das Publikum verzichtet weitgehend auf die sonst in allen Generalpausen inkommensurablen Hüsteleien.

Eine meditative Ruhe verbreitet sich, als Thomas Quasthoff in einen intensiven Dialog mit sich selbst tritt – er singt nämlich sowohl die Jesus-Partie wie auch sämtliche Bass-Arien. Und als der nur zu Beginn etwas ungenaue RIAS-Kammerchor den Heiland sucht und ebenjenen wenig später ans Kreuz zu nageln wünscht, da sprühen Funken von aggressiver Sehnsucht und Verzweiflung.

Rattles prägnant-dynamische Ausleuchtung der Johannespassion war sicherlich die Sternstunde der Osterfestspiele und auch für Bach-Kenner war noch etwas besonderes geboten, denn im Continuo-Teil ertönte neben der gewohnten Instrumentengruppe Cello, Orgel, Laute und Kontrabass diesmal auch ein Kontrafagott, das einen erstaunlichen Neuklang des oft gehörten Materials darstellte.

Weniger aufregend als Bach, aber dennoch mitreißend geriet Mahlers vierte Symphonie, wo übrigens Rattles Lebensabschnittspartnerin, die Sopranistin Magdalena Kozena, den Schlussteil gestalten durfte und dem Orchester ihres Freundes gelegentlich die Oberhand überließ – mit anderen Worten: sie war nicht zu hören.

Fast eine Art Artist-in-residence war Alfred Brendel, der mit seinem üblichen jammergesichtszughaften Mienenspiel Beethovens viertes Klavierkonzert als impulsiven und zugleich transparenten Kraftakt vorstellte. Brendel widmete sich auch Mozarts B-Dur Klavierkonzert, das er allerdings nur routiniert herunterklimperte. Am selben Abend interpretierte Rattle dann auch noch Brahms zweite Symphonie – als krachlederne Effekthascherei: Pomp, Brahms and Circumstance, statt Allegro con spirito...

Abseits der großen symphonischen Brocken gab es im offiziellen Off-Programm der Osterfestspiele, den Kontrapunkten, einige kammermusikalische Juwelen zu entdecken. Der Musikwissenschaftler Jürg Stenzl programmierte drei Konzerte mit Werken aus den 30er und 40er Jahren. Dabei stellte er damals ‚entartete‘ und heute meist vergessene Komponisten in den Mittelpunkt. Als besonders spannend erwiesen sich Stücke, die in Konzentrationslagern entstanden sind, so Hans Krasas Drei Lieder, geschrieben in Theresienstadt, 1943. Krasa vertonte ins Tschechische übertragene Gedichte Arthur Rimbauds, er setzte dessen paradox-verzweifelte Lebensbejahung kongenial um und schuf einen zarten Sehnsuchtsgesang, in Salzburg wunderbar interpretiert von Klemens Sander.

Krasa und viele seiner Leidensgenossen schrieben jedoch nicht nur melancholische Lieder oder düstere Kammermusik, sondern immer wieder auch heitere Werke, die einen beinahe unbeschwerten Charakter haben. Dazu Jürg Stenzl:

" Nun könnte man bei dieser existentiellen Dichtung sagen: das versteht man gut, dass er solche Texte vertont hat, aber in Theresienstadt und anderswo, auch im Untergrund, haben viele Komponisten gerade nicht solche Musik aus der biographischen Situation heraus komponiert, sondern zum Teil heitere, viel heitere Musik, als sie es sonst gemacht haben. Dass wir denken, in dieser extremen Situation schreibt man dann auch eine Musik, die dieses Extreme unmittelbar zum Ausdruck bringt, das ist zu kurz gedacht.“
Das zuweilen Heitere oder heiter Wirkende ist natürlich auch ein eskapistischer Reflex auf die konkrete Bedrohung von Leib und Leben. Ein Aspekt kommt noch hinzu: viele der internierten Künstler waren stark geprägt von surrealistischen Strömungen und benutzten entsprechende Bilder und Symbole in ihrer Musik.

Ein Zeit- und Leidensgenosse Krasas war Viktor Ullmann, der in Theresienstadt zahlreiche Lieder komponierte. In den Drei Liedern aus dem Jahr 1942 vertonte er Gedichte von Conrad Ferdinand Meyer. Das Gedicht „Säerspruch“ ist dabei wohl am berührendsten, es vermittelt die fast versöhnliche Einwilligung in ein unabwendbares Schicksal.

Ullmann konnte viele seiner Lieder in Theresienstadt aufführen, für Jürg Stenzl eine nachgerade groteske Situation:

" Sie sind im Lager aufgeführt worden, was noch eine zusätzliche Pointe bringt. Wenn nun in diesem Lager auch noch Lieder auf deutsche Texte – von einem Schweizer Lyriker – gesungen werden, dann ist das noch eine Drehung mehr.“

Die Wiederentdeckung vergessener, verfemter Komponisten kam beim Publikum gut an, obwohl nur wenige der ‚regulären‘ Festspielbesucher die Kontrapunkte für sich entdeckten.

Völlig verzichtet wurde heuer auf Musik der Gegenwart, in den letzten Jahren hatte es im österlichen Salzburg Uraufführungen etwa von Wolfgang Rihm oder Thomas Adès gegeben.

Der geschäftsführende Direktor des Festivals, Michael Dewitte, begründet die Abstinenz des Neuen, Zeitgenössischen vor allem mit der Angst vor fernbleibenden Festspielgästen:

" Der Mut zum Risiko ist da, aber die Finanzen sind nicht da, um es einzugehen. Deswegen ist sehr große Vorsicht geboten. Zur Zeit ist einfach das Risiko zu groß: wenn wir fünf Prozent im Kartenverkauf zurückgehen, dann ist für uns das Eis schon wahnsinnig dünn.“

In der Tat müssen die Salzburger Osterfestspiele über 90 Prozent ihres Budgets selbst erwirtschaften. Für die nächsten Jahre bleibt dennoch zu hoffen, dass sich endlich einmal ein Sponsor findet, der gezielt das Neue fördert und dadurch dem festlich betuchten Publikum ein paar neue, un-erhörte Höreindrücke vermittelt.