Avi Primor nimmt Günter Grass in Schutz

Avi Primor im Gespräch mit Andreas Müller · 05.09.2011
Der ehemalige israelische Botschafter in Deutschland, Avi Primor, relativiert das Grass-Interview, das der Schriftsteller der Zeitung "Haaretz" in Israel gegeben hat. Darin hat der Literaturnobelpreisträger das Leid der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Leid der Juden durch die Schoah verglichen.
Andreas Müller: In Tel Aviv begrüße ich jetzt Avi Primor. Schönen guten Morgen!

Avi Primor: Guten Morgen, Herr Müller!

Müller: Vor einer guten Woche erschien das Interview in der "Haaretz". Wie waren die unmittelbaren Reaktionen in Israel darauf?

Primor: Eher gelassen. Eher gelassen, gar nicht mit denen in Deutschland verglichen. Es gab sehr viele Reaktionen, Leserbriefe und Talk-backs und alles Mögliche, aber eher gelassen, eher interessiert, was genau Grass sagen wollte, wie das auf die Deutschen wirkt und was das für eine historische Bedeutung hat. Aber niemand hat wirklich in diesem Artikel den Vergleich zwischen dem Leiden der Juden in der Schoah mit dem der Deutschen während der Niederlage und danach. Diesen Vergleich hat man in Israel gar nicht wahrgenommen.

Müller: Wie haben Sie dieses Gespräch gelesen.

Primor: Genau so. Ich glaube, diese Geschichte mit den acht Millionen Soldaten war ein Ausrutscher. Ich glaube – und ich habe die Frage eigentlich dem Historiker und Schriftsteller und Journalist Tom Segev, den Sie schon erwähnt haben, auch direkt gefragt. Und er hat gesagt: Ich habe Reue. Ich habe Reue, das ich ihm nicht während des Interviews die Bemerkung gemacht habe: Sind Sie sicher, dass es acht Millionen gewesen waren? Da hätte er sofort gesagt: Ach nein, ich habe irgendetwas so, ohne Nachzudenken, gedacht. Das ist sein Eindruck. Und er hat überhaupt keinen Eindruck gehabt, dass Grass das Verbrechen der Nazis mildern, mindern will, oder irgendwie relativieren will – keineswegs. Und das war auch unser Eindruck von diesem sehr langen und interessanten Artikeln.

Müller: Ja, Tom Segev hat das auch bei "Spiegel online" am Wochenende gesagt. Ihm sei das nicht aufgefallen, auch in der Übersetzung seien diese Zeilen nicht aufgefallen, sonst hätte er tatsächlich auch korrigierend eingegriffen. Zu sagen, die Deutschen hätten auch gelitten im Krieg, das war nach 1945 in der Bundesrepublik gängig, im Versuch, die eigene Schuld zu relativieren, post 68 dann aber nicht mehr sonderlich opportun. Jetzt wird die alte Lesart ausgerechnet von Grass wieder verbreitet. Ich könnte mir vorstellen, dass gerade in Israel so etwas doch Empörung hervorrufen müsste, weil man es nach dem Völkermord nach den Juden möglicherweise gar nicht angemessen findet, die Deutschen als Opfer darzustellen.

Primor: Also, da muss man ein bisschen die Entwicklung in Deutschland diesbezüglich in Betracht ziehen. In den ersten Jahren haben wir eine Abneigung gegen die Deutschen gehabt, eine totale Abneigung gegen die Deutschen – nicht nur wegen der Vergangenheit, wegen Naziverbrechen, sondern vor allem und hauptsächlich wegen der Verdrängung der Nazitätigkeit in der Nachkriegsgeneration der Deutschen, vor allem in der Bundesrepublik. Von der DDR wussten wir ja sehr wenig. Erst nach 68 haben sich die Dinge in Deutschland geändert, und das hat man in Israel mit Erleichterung wahrgenommen. Das heißt, die Verdrängung war allmählich weg, und es hat sich eine Gewissenserforschungs-Kultur entwickelt in Deutschland wie nirgends anderswo. Und das hat man bei uns schon wahrgenommen.

Jetzt kommt dann die Rede von dem Bundespräsidenten Weizsäcker 1985, wo er von der Befreiung der Deutschen 1945 spricht, und da gab es eine große Diskussion. Eigentlich war die Schlussfolgerung der meisten Israelis – der Intellektuellen auf jeden Fall –, dass es eigentlich gut so ist. Das heißt, die Deutschen betrachten, was die Nazis getan haben, tatsächlich als Verbrechen, und es finden selber, dass sie auch unter diesen Verbrechen gelitten haben. Also war das auf jeden Fall das aller schlimmste, das allen Menschen passieren konnte, der Nazismus, und insofern ist es gut so. Ich glaube auch, dass wenn die Deutschen von ihrem Leiden nach dem Krieg sprechen, ohne den Zusammenhang des Leidens zu vergessen, dann ist es eine gute Sache, weil ich glaube, dass die Deutschen auch ihre eigene Geschichte nicht mehr verdrängen sollen. Nur so können sie mit sich selber zurechtkommen und in die Zukunft blicken.

Müller: Aber gerade bei den Kindern jener, die da im Kriege waren, gibt es so ein Déjà-vu, man erinnert sich an die Gespräche am Küchentisch, wo es dann immer hieß: Ja, wir haben ja auch so gelitten und überhaupt. Und da wurde eben nicht relativiert, und nun kommt sozusagen der alte Nobelpreisträger, der Literaturnobelpreisträger und schwenkt da auf so einen Kurs des Selbstmitleides ein, das irritiert hier – auch mich – doch eine Menge Leute.

Primor: Das kann ich verstehen. Dass es in Deutschland irritiert, kann ich verstehen. Wir sehen das hier anders. Sie fragen mich, wie die Israelis darauf reagiert haben. Wir sehen das als eine gute Entwicklung der deutschen öffentlichen Meinung, weil die Deutschen nüchtern mit ihrer Geschichte werden. Und das ist die Hauptsache. Weil was uns am meisten gestört hat, war wie schon gesagt die Verdrängung und die Relativierung. Und ich glaube nicht, dass es heute darum geht. Und wie gesagt, auf jeden Fall in dem Interview von Günter Grass haben wir das nicht so gesehen, wir haben das nicht so empfunden, und ich glaube, dass das der Meinung des großen Schriftstellers auch nicht entspricht.

Müller: Die israelischen Reaktionen auf das Interview Günter Grass in der Zeitung "Haaretz" besprechen wir hier im "Radiofeuilleton" mit Avi Primor. Das sind einerseits die Inhalte, andererseits will ich mal den Historiker Michael Wolffssohn zitieren, der hier im Deutschlandradio Kultur vergangene Woche von einem unverschämten Daffke-Ton des Grass sprach, so nach dem Motto: Ihr habt gelitten, wir haben gelitten. Er empört sich da auch ein wenig über den Ton, in dem das da geäußert wurde.

Primor: Sie wollen meine Reaktion darauf?

Müller: Ja. Entschuldigung, ja.

Primor: Ich habe den Ton, wissen Sie, nicht gehört, weil ich habe nur den Artikel gelesen. Und ich habe diesen Ton dem Artikel nicht entnommen, das konnte ich nicht, ich fand den Artikel nüchtern und sachlich – es gab da und dort einen Fehler, wie mit den acht Millionen deutschen Soldaten, da stimmten die Zahlen nicht, aber das kann man auch verstehen, dass man so einen Ausrutscher hat –, nein, ich fand diesen Ton so nicht, und in der Vergangenheit habe ich Günter Grass nicht nur einmal gelesen, sondern auch gehört, habe ich auch so einen Ton auch nie erlebt. Also, mag sein, dass wenn man ihn heute in den deutschen Medien im Radio oder Fernsehen hört und sieht, bekommt man ein anderes Gefühl, das weiß ich nicht. Ich habe das nicht so empfunden.

Müller: Welches Gewicht hat denn die Stimme von Günter Grass in Israel? Wird er denn ernst genommen?

Primor: Ja, er wird ernst genommen. Erstens, weil man seine Geschichte ja kennt und seine Rolle in der Entwicklung der Bundesrepublik. Das kennt man, das kennen natürlich die älteren Leute, aber auch für die jüngeren Leute ist Grass der Schriftsteller Deutschlands heute, und das ist bekannt, und darüber lernt man sogar in den Schulen, also hat er schon sehr viel Gewicht.

Müller: Abschließend noch gefragt: Hat Israel vielleicht auch derzeit ganz, ganz andere Probleme? Wir haben ja am Wochenende Demonstrationen historischen Ausmaßes gesehen, als das man sich jetzt noch mal intensiv mit diesem Thema überhaupt beschäftigen würde.

Primor: Ja, man beschäftigt sich ja mit vielen Problemen zugleich. Und die Zeitungen berichten ja auch über verschiedene Sachen. Ich würde sagen, die Frage Günter Grass wird eher in den Intellektuellen-Zeitungen erörtert, in den – was das Äquivalent des Feuilletons, des deutschen Feuilletons bei uns, und in Radiogespräche. Das ist nicht, würde ich sagen, ein Massenthema. Die Massen in Israel haben tatsächlich andere Probleme: Die sozialen Probleme, die wirtschaftlichen Probleme und vor allem die politischen und Sicherheitsprobleme – das stimmt. Aber ein Mensch interessiert sich ja für vieles. Und wenn es um Deutschland geht, dann schwebt das irgendwie immer im Hintergrund, in Hinterkopf.

Müller: Israelische Reaktionen auf das Interview von Günter Grass in der Zeitung "Haaretz" hier im Gespräch mit Avi Primor, dem ehemaligen israelischen Botschafter in Deutschland. Haben Sie vielen Dank!

Primor: Guten Morgen!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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