Autoren schreiben über Autoren

"Ich sehe die Welt so ähnlich"

29:58 Minuten
Das Gemälde "Mann am Sekretär" von Georg Friedrich Kersting (1785-1847).
"Ach, wissen Sie, jedes Leben ist ein Roman – und der Verfasser ist unbekannt." - Gemälde "Mann am Sekretär" von Georg Friedrich Kersting © akg
Von Michael Reitz · 07.09.2018
Audio herunterladen
Hans Pleschinski schreibt über Gerhart Hauptmann, Unda Hörner über Franz Kafka, Jens Sparschuh über Chamisso. Zahlreiche Publikationen der Gegenwartsliteratur widmen sich dem Leben von Schriftstellern: Was steckt hinter dem Interesse der Autoren an ihren einstigen Kollegen?
"Es ist ja nicht so, dass man eins zu eins ein Schriftstellerleben nacherzählt."
"Wenn sich Schriftsteller literarisch mit anderen Schriftstellern auseinandersetzen, dann hängt das damit zusammen, dass man dann als Autor sehr gut über sich selber reden kann, ohne Ich zu sagen."
"Ich bin auch jemand, der einerseits Leben wichtig findet. Ich möchte auch nicht jemand sein, der nur mit Buchstaben und Wörtern umgeben ist. Diese Konflikte habe ich bei Hesse gesehen."
In Paula McLains Roman "Madame Hemingway" erzählt die Autorin von dem tragischen Ende der ersten Ehe des Nobelpreisträgers und Großwildjägers. Der Berliner Autor Torsten Seifert begibt sich in seiner Erzählung "Wer ist B. Traven?" auf die Suche nach dem legendären Schriftsteller, dessen Leben noch heute weitgehend im Dunkeln liegt. Die britische Autorin Jo Baker beleuchtet in ihrem Roman "Ein Ire in Paris" das Leben Samuel Becketts in einer für ihn ebenso gefährlichen wie fruchtbaren Phase.
"Ach, wissen Sie, jedes Leben ist ein Roman – und der Verfasser ist unbekannt."
"Ich erzähle nicht der Historie wegen. Es soll etwas für heute sagen. Es ist durchaus das Trachten, manchmal aus der Vergangenheit für heute und vielleicht für die Zukunft zu erzählen."
In "Die Ballade vom Wunderkind Carson McCullers", so der Titel eines Romans von Barbara Landes, geht es um eine Autorin, die an sich selbst zerbricht. Was bringt Autoren dazu, sich mit Menschen auseinanderzusetzen, die ebenfalls geschrieben haben? Wie zum Beispiel den Oldenburger Schriftsteller Klaus Modick:
"Als Autor begeistert man sich für andere Autoren besonders dann, wenn man da auch eine gewisse Verwandtschaft verspürt."

"Das ist mein Mann"

Klaus Modick hat eine ganze Reihe von Romanen veröffentlicht, die tief in Literaten-Biografien eintauchen. In "Konzert ohne Dichter" begegnen wir einem wenig sympathischen Rainer Maria Rilke. Angenehmer sind da schon Lion Feuchtwanger oder Carl Zuckmayer in Klaus Modicks Romanen "Sunset", beziehungsweise "Die Schatten der Ideen". Und erst recht der baltische Schriftsteller Eduard von Keyserling, der Protagonisten aus Klaus Modicks fast schon kriminalistischer Erzählung "Keyserlings Geheimnis", erschienen 2018.
"Gerade bei Keyserling, was mir unglaublich gut gefällt, ist die Kritik, die er so vorbringt. Die ist ja unglaublich subtil. Der wird ja nie richtig böse oder so, sondern das ist immer in so einer schwebenden Ironie."
Klaus Modicks Roman beginnt im Jahr 1901. Eduard von Keyserling, der damals in München lebte, besucht den Maler Lovis Corinth in dessen Haus am Starnberger See.
"Manche Sätze muss man zwei Mal lesen, und dann schmunzelt man und merkt plötzlich, wie sarkastisch das im Grund dann eben doch ist. Ich sehe die Welt so ähnlich, was diesen ironischen, auch selbstironischen Blick angeht. Das ist mein Mann."
Klaus Modick war begeistert von Eduard von Keyserlings Stil und Themenwahl. In seinem Roman ist Keyserling von den Folgen seiner Syphilis-Erkrankung gezeichnet. Obwohl erst Mitte 40, sieht er aus wie ein alter, gebrechlicher Mann. Trotzdem sitzt er Lovis Corinth stunden- und tagelang Modell. Und der Maler ist fasziniert von ihm, von dem was er "Edelfäule" nennt und in Keyserling zu sehen glaubt: als Teil einer adeligen Gesellschaft, die einfach nicht akzeptieren will, dass ihre Zeit vorbei ist.
Eduard von Keyserling nimmt in Klaus Modicks Roman diese Etikettierung begeistert auf. Denn er versteht sich als Chronist dieses Untergangs:
Die Geschichten, die ihm durch den Kopf gehen, haben etwas mit diesem Wort zu tun, Geschichten aus einer Gesellschaft, deren schöne Fassade bröckelt wie trockene Schminke auf dem Gesicht einer Alternden, die das Alter fürchtet, von deren Schlössern der Putz fällt und durch deren undichte Dächer der Wind der Veränderung, wenn nicht gar der Sturm des Umsturzes zieht.

Begegnung mit einem vergessenen Schriftsteller

Doch wie kam Klaus Modick ausgerechnet auf Eduard von Keyserling? Einen Autor, der zwar von Literaturwissenschaftlern als der baltische Theodor Fontane bezeichnet wird, der aber bei weitem nicht so bekannt ist wie der Autor von "Effi Briest". Zudem gibt es so gut wie keine biografischen Texte über Keyserling, er galt als ausgesprochen schweigsamer Einzelgänger.
Als er 1918 starb, wussten selbst seine engsten Freunde wenig über ihn. Modick stieß auf einige Unregelmäßigkeiten und dunkle Flecken im Leben Keyserlings als er sich auf eine Veranstaltungsreihe über vergessene Schriftstellerkollegen vorbereitete.
"Nämlich die Tatsache, dass es in Keyserlings jungen Jahren Ereignisse gegeben haben muss, die dazu geführt haben, dass er sozusagen aus seiner Klasse ausgestoßen wurde oder in Adelskreisen unmöglich wurde. Das fand ich natürlich interessant. Und da habe ich sozusagen einen Stoff gerochen."
Die Rolle des investigativen Schriftstellers Klaus Modick übernimmt in seinem Roman der Maler Lovis Corinth. Während der langen Sitzungen sind es seine einfühlsamen Fragen, die Eduard von Keyserling sein bisheriges Leben Revue passieren lassen.
Dabei lässt Klaus Modick seinen Helden in immer wieder neuen Rückblenden jene Ereignisse umkreisen, die Eduard von Keyserling gesellschaftlich ins Verderben stürzten. Ohne die er andererseits niemals Schriftsteller geworden wäre. Modick ging es aber nicht nur um das Erzählen einer wichtigen Lebensphase eines exzentrischen und bissigen Künstlers.
"Es geht um Fragen, die in der Produktion von Kunst und Literatur eigentlich immer aktuell sind."
In seinem Keyserling-Roman beschreibt Modick Mechanismen, die seiner Ansicht nach auch heute noch wirksam sind.
"Wie verhält sich der Künstler im Markt? Auch in dem Keyserling-Buch sehr wichtig. Es tritt zum Beispiel auch eine Figur auf, der ein Manager ist. Impresario nannte man das damals, der also bestimmte Ideen darüber hat, wie man Kunst verkaufen kann. Das ist alles sehr, sehr modern. Das ist dann auch so ein Wiedererkennen. Ich fühlte mich sozusagen immer dabei. Die Grundproblematiken oder -konstellationen, die da eine Rolle spielen, sind zeitgenössisch und werden es auch immer bleiben."

"Ein Geistesfürst ist nicht mehr vorstellbar"

In einer fiktiven Szene seines Romans macht Klaus Modick deutlich, worum es ihm geht. Von seinem Buchhändler wird Eduard von Keyserling die Erzählung eines hoffnungsvollen jungen Talents angeboten. Sein Name: Thomas Mann. Modick lässt Keyserling kommentieren:
Die Debütrakete von heute erweist sich aber oft als der Rohrkrepierer von morgen, der neue helle Stern am Firmament der Literatur als bloße Schnuppe. Deswegen schrumpfen in Literaturgeschichten ja auch nicht die ersten Kapitel, sondern immer die letzten.
Auch wenn Keyserling im Fall von Thomas Mann irrte, der literarische Betrieb zu Beginn des 21. Jahrhundert ist noch marktorientierter geworden als zu dessen Zeiten. Die "Debütraketen" steigen Jahr für Jahr gebündelt in den literarischen Himmel, gehypt von einem Verlagswesen, das sich langfristige Investitionen in vielversprechende Autoren und deren Projekte nicht mehr leisten kann. Hinzu kommt, so Hans Pleschinski, Autor des Gerhart Hauptmann-Romans "Wiesenstein":
"Literatur ist ein Medium, ein Phänomen in unserer übervollen saturierten Welt. Und ein Geistesfürst ist nicht mehr vorstellbar. Jede Meinung wird sofort multipliziert, zerpflückt. Es hat ja nichts mehr an Haltbarkeit heute. Insofern ist ein Schriftsteller, der den Ton vorgibt, nicht mehr vorstellbar. Dann kommt hinzu, dass es andere Medien gibt."
Was zählt, ist der schnelle Erfolg. Hinzu kommt, dass, begünstigt durch den Online-Buchhandel, viele Leser offenbar immer weniger das Risiko eingehen, sich auf Unbekanntes einzulassen – für die Berliner Autorin Unda Hörner wird hier eine Parallele zur Online-Partnerwahl sichtbar:
"Diese Konsumhaltung eben auch. Ach ja, ein Klick weiter finde ich vielleicht noch was Besseres. Dass da so der lange Atem fehlt und so ein bisschen die Geduld, einfach jemanden mal kennenzulernen."
Und oft drängt sich der Eindruck auf, dass nicht die literarische Qualität, sondern das richtige Marketing über den Wert eines Buches entscheiden, so Hans Modick:
"Ich merke das sehr stark in meiner Autorengeneration. Wir werden immer nur noch so von Titel zu Titel zur Kenntnis genommen. In der Wahrnehmung des Marktes Buchhandel und auch bei vielen Lesern ist es eigentlich immer die Reduktion auf den neuesten Titel, und was davor war – meistens wissen es die Leute gar nicht mehr."
Die marktbeherrschenden Verlage setzen vielfach auf Masse, auf Produkte, die schnell konsumierbar und leicht zu lesen sind. So dürfte es kaum eine literaturgeschichtliche Epoche gegeben haben, in der der literarische Geschmack so sehr von Krimi- und Fantasy-Literatur geprägt war wie die unsere.

Schreiben als Schutz vor der Welt

Ist es die Sehnsucht nach einer Zeit, in der Schriftsteller nicht permanent die Werbetrommel in eigener Sache rühren mussten, die heutige Autoren über einstige Kollegen schreiben lässt? Auch, weil die es sich noch leisten konnten, über längere Zeiträume nichts zu veröffentlichen, anstatt ständig im Gespräch sein zu müssen, um im Medienrummel nicht unterzugehen.

"Wenn ich jetzt mir als Schriftsteller einen Schriftsteller vorknöpfe, hat das ein hohes Identifikationspotenzial", sagt die Berliner Autorin Unda Hörner dazu:
"Meistens kommt das so von ganz weit her. Für mich persönlich war Schreiben immer ein Rückzug, den ich mir selber ausgesucht habe. Ein Schutz vor der Welt."
Jede Beschäftigung mit einem vergangenen Erzähler ist auch eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Nicht nur über die eigenen Möglichkeiten erzählerischer Gestaltung. Es kann auch sein, dass Texte oder Autorenbiografien aus der Vergangenheit den Horizont des gegenwärtig Schreibenden erweitern. So sieht es jedenfalls Klaus Modick.
"Wenn sich Schriftsteller literarisch mit anderen Schriftstellern auseinandersetzen, dann hängt das damit zusammen, dass man dann als Autor sehr gut über sich selber reden kann, ohne Ich zu sagen. Man kann dann eigene Problematiken, die man vielleicht so unmittelbar nicht formulieren würde, die kann man im Medium des Erzählten auslagern. Man kann bestimmte ästhetische, aber auch politische Positionen dann gut durchdeklinieren am historischen Personal."

"Die ganze Vergangenheit liegt ja noch vor uns"

"Was heißt, es fällt einem nix ein? - Die ganze Vergangenheit liegt ja noch vor uns."
Der Berliner Schriftsteller Jens Sparschuh auf die Frage, ob den heutigen Schriftstellern möglicherweise die Stoffe ausgehen, wenn sie literarische Biografien verfassen.
"Die muss man entdecken. Wenn man jetzt hier als Hamsterradfahrer nur in seiner eigenen Gegenwartsbefindlichkeit rumirrt: Ich finde das ganz großartig, wenn man irgendwie die Kraft hat und den Mut, über den Tellerrand zu blicken. Das hat alles seine Ordnung."
Jens Sparschuh schrieb mit "Ende der Sommerzeit" 2014 einen Roman über Vladimir Nabokov, vier Jahre später folgte sein Buch "Das Leben kostet viel Zeit", in dem er Adelbert von Chamisso ein Denkmal setzt. Für Schriftsteller, so Jens Sparschuh, die sich für vergangene Literatur und ihre Produzenten interessieren, ist der Kollege kein zweites Ich, dem man nachzueifern versucht. Er ist vielmehr ein Stoff wie jeder andere, der allerdings auch andere Herausforderungen bereithält.
"Vielleicht lerne ich da auch was über mich. Und neben all dem, was ich auch gerne auch immer mache als so eine Art Sherlock Holmes, dass ich in Archiven rumwühle und Spuren lese und solche Sachen mache. Ich finde das ganz gut, wenn schon mal das Büro hier ein bisschen unaufgeräumt ist, wenn man mal rauskommt und die Welt mit ganz anderen Augen sieht und nicht immer nur verkantet hier in den kleinen Bildschirm guckt."
Wie entstehen Lebenserzählungen, wie geht man am Ende des Daseins mit seiner eigenen Biografie um? Das sind Fragen, die dem Leser in Jens Sparschuh Roman "Das Leben kostet viel Zeit" begegnen. Der Held Titus Brose, ehemaliger Chefredakteur einer kleinen Berliner Zeitung, arbeitet für die Agentur "LebensLauf". Deren Geschäftszweig ist das Verfassen von Biografien.
"Ich habe den Eindruck", so begann Brose, "dass viele den Fehler machen, rückblickend ihr Leben aus der Sicht eines Hauptdarstellers zu beschreiben, und dabei völlig ignorieren, dass sie oft nur Nebendarsteller oder Statisten in ihrem eigenen Leben waren. Ihr wisst, was ich meine: das Gelebtwerden. Dadurch wird es oft so langweilig beim Zuhören."
Bei diesen Biografien geht es nicht um Prominente, sondern um Insassen von Altersheimen, die Titus Brose und anderen ihr Leben erzählen und es dann als Buch in Händen halten können. Jens Sparschuh erzählt, wie der Stoff zu ihm kam.
"Ich hatte aus verschiedenen Gründen in den letzten Jahren und Jahrzehnten oft in solchen Seniorenresidenzen zu tun. Und da sammelte sich unglaublich viel an. Und ich habe trotzdem gesagt, das kann es ja nicht sein, wenn ich nur sozusagen in der Welt der Phänomene, der Erscheinungen mich bewege. Und ich suchte plötzlich noch nach irgendeinem Dreh. Ich brauchte noch irgendeinen Drehpunkt. Und da fiel mir irgendwann mal in die Hände – mein Chamisso."
Diese beiden Komponenten – Seniorenwohnheim und der 1838 verstorbene deutsche Dichter Adelbert von Chamisso – verbindet Jens Sparschuh zu einer Geschichte. Sie ist ein Zwischending aus ironischer Kritik am Literatur- und Pressebetrieb, sowie der philosophischen Fragestellung, was von einem Leben bleibt – als Insasse eines Altersheims oder das des fast vergessenen Adelbert von Chamisso.
Denn einer der Senioren schreibt an einer Monografie über Chamisso und macht den Lohnschreiber Titus Brose zu seinem Gehilfen – der dadurch endlich seinen lebenslangen Plan, einen Roman zu schreiben, in die Tat umsetzt.
Mit dieser Geschichte war er längst noch nicht fertig, die hatte gerade erst begonnen: Die ganze Vergangenheit lag ja noch vor ihm. Es half alles nichts, er musste noch einmal zurückgehen, ganz zurück, alles auf Anfang: Wie er überhaupt in diese Geschichte hineingeraten war. Wenn er wirklich weiterkommen wollte, würde er also zunächst mit diesem Kapitel aus seiner eigenen Biografie beginnen müssen.

"Jedes Leben ist ein Roman"

"Ach, wissen Sie, jedes Leben ist ein Roman – und der Verfasser ist unbekannt. Das ist sozusagen die kleine Volte am Ende, dass wir gar nicht wissen, wer ist denn der Verfasser dieser Lebensromane. Ist man das selbst? Klar, zum Teil ist man das auch selbst. Aber wer hat da noch seine Finger im Spiel? Das ist doch das Interessante."
Mit ihrem Roman "Kafka und Felice" hat sich Unda Hörner einem literaturgeschichtlichen Dauerbrenner gewidmet. Es geht um die problematische Beziehung Franz Kafkas zu Felice Bauer, dokumentiert einzig durch die Briefe des Prager Pessimisten an seine Braut. Denn die Briefe Felices an Kafka sind verschollen. In ihrem Roman lässt Unda Hörner sie zu Wort kommen:
Felice hätte sich schon Ende 1912 hinsetzen und folgenden Brief formulieren müssen: "Wir sehen uns leider außerstande, Ihre Wünsche zu erfüllen. Das Produkt, das Sie suchen, führen wir nicht." Und sie hätte sich nicht scheuen dürfen, den komplizierten Kunden Kafka an ein Konkurrenzunternehmen zu verweisen.
Es war eine Beziehung, die von Kafkas Seite aus mit Zweifeln und Ängsten vor einem bürgerlichen Leben mit Ehefrau und Kindern belegt war, mit zermürbenden Selbstzweifeln und Unentschlossenheit. So ist jedenfalls die gängige Lesart einer der berühmtesten und gleichzeitig tragischsten Liebesgeschichten der Weltliteratur. Unda Hörners Impuls war es jedoch nicht, eine neue Variante der Geschichte eines am Leben scheiternden Genies zu erzählen.
"Ich glaube, wir müssen uns so ein bisschen freimachen von diesem Kafka-Klischee. Ich weigere mich, ihn einfach so als diesen schrägen Vogel zu sehen, als der er so gemeinhin dargestellt wird."
Unda Hörners Impuls war es, sich auf Felice Bauer zu konzentrieren und zu fragen: Hatte sie möglicherweise ähnliche Vorbehalte gegen eine Ehe mit Franz Kafka? Denn sie war eine erfolgreiche und hochintelligente Frau, die in Berlin auch beruflich ihren eigenen Weg ging.
"Mich hat ja nicht nur der Kafka interessiert, sondern eben gerade Felice Bauer, weil sie, wie ich, in Berlin lebt, weil sie durch Straßen geht, die ich kenne, die ich inzwischen glaube sogar zu kennen zu Felice Bauers Zeiten, so gut konnte ich mich da reinversetzen. Und dann auch diese Zerrissenheit dieser Frau, die eigentlich ein ganz anderes Leben leben will, als dieses fremdbestimmte mit einem Mann, der ihr dann nach der Hochzeit sagt, wo es langgeht. Das fand ich eigentlich das Spannendste daran, das aus Sicht von Felice Bauer mal zu erzählen, was mit Kafka und ihr passiert ist."
Es gab zwei Möglichkeiten von Klarheit. Nein, Franz, der Lebensstil an der Seite eines Einsiedlers, den du mir in Aussicht stellst, erfüllt mich mit Angst und Schrecken. Deshalb adieu, leb wohl, es ist besser so. Oder: Ja, Franz, mit fliegenden Fahnen, denn jedes deiner Worte klingt so neu in meinen Ohren. Ich habe endlich begriffen, wer du wirklich bist. Ja, Franz, ich will!
"Im Grunde genommen tauchte das immer mal wieder als Idee auf, diesen Briefmonolog, der uns erhalten ist von Kafka an Felice, umzuwandeln. Also sozusagen zu inszenieren als Roman. Ich mag überhaupt nicht Biografien beziehungsweise biografische Romane, die ihren Gegenstand – also den Dichter oder wer auch immer porträtiert wird – zu sehr sich zu eigen machen, indem man ihm Sätze in den Mund legt, die sie nie gesprochen haben. Also gerade bei Kafka würde ich mir das nie erlauben. Ich habe mich ganz hart an diese tatsächlich überlieferten Dinge gehalten."
Unda Hörner gelingt es mit ihrem Roman, den Einfluss Felice Bauers auf Kafkas Werk nachzuweisen. So war zum Beispiel ihr Bruder eine verkrachte Existenz, der Hals über Kopf in die USA auswandern musste. Er ist Vorbild für Karl Roßmann, den Protagonisten in Kafkas unvollendetem Roman "Der Verschollene". Der Briefwechsel mit Felice Bauer, so Unda Hörner, ist darüber hinaus für Franz Kafka der Treibstoff seiner Literatur.
"Wenn da mal nicht gleich am folgenden Tag ein Brief aus Berlin zu ihm nach Prag kommt, dann insistiert er ja. Was ist mit dir? Warum kannst du nicht schreiben? Er nötigt sie fast, dass sie ihm Briefe schreibt. Und da hat man schon den Eindruck auch, dass das der Motor ist seines eigenen Schreibens. Denn immer wenn sie sich dann tatsächlich mal begegnen in diesen fünf Jahren, dann verschlägt es ihm die Sprache, und nur wenn er sie wieder distanziert und sie als Briefschreiberin für ihn da ist, dann findet er wieder Worte."

Im Frack dem Untergang entgegen

Das Hakenkreuz vor der Ostseevilla hätte er nicht hissen lassen müssen, wenn auch diese Unterwerfung, oder, schlimmer noch: dieses Bekenntnis, seine Einkünfte sicherte. Er hätte einfach ein umgänglicher Patriot sein können, mit der minimalen Devise: Ich liebe Deutschland. Wo in seinen Grenzen und in seinem Namen Unrecht geschieht, bin ich nicht dabei. So schütze ich mein Land. Auf das Großspurige, Schäbige, den Hass hatte er sich eingelassen. Nun das Inferno.
Das Inferno findet statt im Jahr 1945, als der deutsche Dramatiker und Nobelpreisträger Gerhart Hauptmann die Zerstörung Dresdens mitansehen muss. Der alte und schwerkranke Dichter, der mit den Nazis paktierte und von ihnen profitierte, erwartet mit seiner Familie und zahlreichem Dienstpersonal das Kriegsende und den Einmarsch der Roten Armee auf seinem Schloss in Schlesien. Diese Endzeitstimmung ist Gegenstand von Hans Pleschinskis Roman "Wiesenstein", erschienen 2018.
"Ich fand heraus, dass bei Hauptmanns in Wiesenstein im Riesengebirge Schlesien bis Weihnachten 1944 Frackzwang zum Abendessen herrschte, die Damen Abendkleider – am Ende des Kriegs. Und das fand ich dermaßen bizarr, im Untergang so etwas Festliches noch zu zelebrieren, dass ich eingetaucht bin in sein Leben und sein Werk.//
Der Leser lernt Gerhart Hauptmann als einen Menschen kennen, der jahrelang im Mittelpunkt des öffentlichen Lebens stand und dessen Berühmtheit mit der eines Filmstars vergleichbar war. Der allerdings auf der falschen Seite stand. Er emigrierte nicht bei der Machtergreifung Hitlers, sondern ließ sich sogar vom NS-Regime hofieren und instrumentalisieren.
"Gerhart Hauptmann ist ein solcher deutscher Musterfall von Wankelmut, auch im Politischen, und von schwerem Schicksal, weil er meinte, er sei deutsche Hochkultur – was er auch war –, und blieb dann im Dritten Reich im Nazi-Reich und raste mit diesem Reich in den Abgrund. Das ist spannend wie ein toller Film. Und das fesselt mich, und ich schreibe den Film auf, sozusagen in Buchstaben, in Buchform, in Kapiteln."
Hans Pleschinski erzählt von einer klaustrophobischen Situation am Ende des Lebens von Gerhart Hauptmann. Eingesperrt in seinen goldenen Käfig lässt er diesen seine Rolle in einem Regime resümieren, das nun untergeht. Dabei stellt Pleschinski seinen Helden nicht als einen alten Nazi dar, der Krokodilstränen über die vergangene Herrlichkeit vergießt. Vielmehr lernen wir Gerhart Hauptmann als einen Menschen kennen, der über dem eigenen Ruhm seine Verantwortung als Autor vergaß.
In seinem Roman "Königsallee" hatte sich Pleschinski 2013 mit dem glatten Gegenteil dieser Haltung auseinandergesetzt: Er erzählt von Thomas Manns Rückkehr aus dem US-amerikanischen Exil und dessen erster Lesereise durch Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg.
"Es sind zwei große historische Gestalten aus der Literatur, aber ich erzähle nicht der Historie wegen. Es soll etwas für heute sagen. Es ist durchaus das Trachten, manchmal aus der Vergangenheit für heute und vielleicht für die Zukunft zu erzählen."

Von den Schwierigkeiten und Ängsten eines Autorenlebens

Er glaubte ursprünglich, mit einer kühnen, neuen Lehre zu kommen. Nun wird er wie ein alter Freund begrüßt. Daraus lassen sich nur zwei Schlüsse ziehen: Entweder hat ihn keiner verstanden oder er selbst hat sich nur aufgeblasen wie ein Kind, das König spielt.
Wer sich hier in einer ernsten Identitäts- und Schaffenskrise befindet, ist Hermann Hesse. In seinem 2016 erschienenen Roman "Immer nach Hause" hat sich der Münchner Schriftsteller Thomas Lang einer Lebensphase Hesses gewidmet, die wahrscheinlich seinen späteren Weltruhm begründete. Sie beginnt im Jahr 1907, drei Jahre nach dem Erscheinen von Hesses "Peer Camenzind". Der Roman beschert dem Dichter erstmals nicht nur eine breite Anerkennung, sondern er lohnt sich auch finanziell. Der junge Hermann Hesse bezieht mit Frau und Kind ein Haus am Bodensee – und beginnt, sich mehr und mehr als Künstler infrage zu stellen.
Für gewöhnlich schreibt er seine Prosa mit traumwandlerischer Sicherheit. Aber das könnte vorbei sein. Er könnte an der Grenze seiner Fähigkeiten angekommen sein. Das würde bedeuten, sich in Zukunft nur noch zu wiederholen oder zu schweigen. Es kommt ihm vor, dass sie ihn kriegen werden, den Idyllenschreiber, den Unterhaltungsschriftsteller.
"Ich fand eben diese frühe Lebensphase jetzt passt vielleicht auch besser zu meinem eigenen Leben."
Der Schriftsteller Thomas Lang.
"Ich bin ja auch eher in der Lebensmitte und nicht so ein weiser Alter oder so, der auf alles zurückblickt. Vielleicht hat es mich ja auch deshalb mehr angesprochen, aber eben finde ich das so spannender, Leute, die noch nicht fertig sind oder so, einfach mal zu gucken, wie sind sie eigentlich auch da hingekommen? Durch was sind sie so durchgegangen."
Thomas Lang lässt den Großschriftsteller Hermann Hesse in einem Alltag mit all seinen Problemen ankommen. Sein Roman "Immer nach Hause" beschreibt zwar mit großer Sachkenntnis und Einfühlungsvermögen die Schwierigkeiten und Ängste eines Autorenlebens. Aber er geht auch der Frage nach: Warum stand Hermann Hesse sich so oft selbst im Weg?
Warum eigentlich kann es nicht immer so sein, warum lebt er nicht seinen Traum von der Ungebundenheit und Bedürfnislosigkeit, die er bald seinem neuen Helden, dem Landstreicher Knulp geben wird?
"Ich bin auch jemand, der einerseits Leben wichtig findet, ich möchte auch nicht jemand sein, der nur mit Buchstaben und Wörtern umgeben ist. Ich sehe mich als was anderes als dieser totale Büchermensch, der nur in der geistigen Welt rumschwebt. Dann plötzlich schrumpft mein Tag zusammen, weil meine Tochter krank ist. Und dann kann ich nicht einfach sagen, mach die Tür zu, ist mir alles egal, ich schreibe jetzt mein Ding. Diese Konflikte zum Beispiel, so habe ich sie bei Hesse gesehen. Und da muss man sich verorten."

Der Titel von Thomas Langs Roman "Immer nach Hause" ist ein Zitat aus Novalis' Erzählung "Heinrich von Ofterdingen". Er beschreibt eine Sehnsucht, die nicht nur Schriftsteller haben: bei sich selbst anzukommen – um sich dann der Welt zu präsentieren. Lang hat damit ein Phänomen in Künstlerbiografien artikuliert, das auch heutige Autoren kennen: das Leben in einem Paralleluniversum.
"Klar kenne ich das auch von mir. Ich habe auch Zeiten schon gehabt und werde sicher auch noch mal welche haben, wo man denkt, vielleicht hätte man da eher links abbiegen sollen statt rechts. Jetzt, literarisch: Ungenügen am Text irgendwie gehört, glaube ich, auch dazu. Dass man denkt, man will irgendwie noch weitermachen oder vielleicht was besser machen. Und der nächste Text soll ja nach Möglichkeit immer besser werden als der vorige, sonst könnte man eigentlich aufhören."
Der Trend "Autoren schreiben über Autoren" wird so bald nicht vorübergehen. Denn immer wieder werden Schriftsteller Seelenverwandtschaften in der Literaturgeschichte finden. Phasen in Kollegenbiografien aufspüren, die ihrem Leben als Künstler ähnlich sind. Ein Ausweichen ist da oft nicht möglich, wie Hans Pleschinski sagt:
"Die Geschichten schreien, die Personen schreien danach, versuch es mit mir und zeige, was war."
Mehr zum Thema