Autor Thomas Melle zu seinem Stück "Überwältigung"

Zweite Chance für die Nibelungen-Sage

11:47 Minuten
Thomas Melle
Thomas Melle hat den Nibelungen in seinem Stück nun eine zweite Chance geschenkt. © Nibelungen Festspiele / Bernward Bertram
Moderation: Janis El-Bira · 06.07.2019
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Es ist wohl der deutsche Mythenstoff schlechthin: Die Nibelungen-Sage. Seit 2002 finden in Worms wieder Nibelungen-Spiele statt. In diesem Jahr ist es Schriftsteller Thomas Melle, der sich mit seinem Stück "Überwältigung" vor den Wormser Dom wagt.
Die Nibelungen-Sage ist ein mittelaltelterliches Epos um Liebe, Neid und Macht, aus dem am Ende niemand lebend rauskommt. Unter den Nazis wurde der Stoff zum nationalen Gründungsmythos verklärt und ab 1937 bei den Nibelungen-Festspielen vor dem Wormser Dom als Theatergroßereignis inszeniert.

Auf der Suche nach den Zerstreuungseffekten

Seit 2002 finden in Worms nun wieder Nibelungen-Spiele statt – allerdings längst in weitreichenden Neufassungen. In diesem Jahr ist es der Schriftsteller Thomas Melle, der sich mit seinem Stück "Überwältigung" vor den Wormser Dom wagt. Wie nun ausgerechnet er, der für autobiografische Texte wie den Roman "Die Welt im Rücken" gefeiert wird, zu den Nibelungen gekommen ist, hat Thomas Melle im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur so begründet:
"Nibelungen, ein urdeutscher Stoff - das weiß ich so gar nicht. Das ist ja vielleicht der erste Missbrauch am Stoff, den zu einem National-Gründungsmythos umzugestalten. Man muss ja völlig verrückt sein, um so einen katastrophalen Ausgang der Geschichte oder überhaupt so eine katastrophale Geschichte sich zum Mythos zu nehmen, weil: Alle sterben am Ende. Ich habe das eh nie verstanden, warum das so hergezerrt wurde und als Grundlage dienen sollte. Und für mich war’s auch eine Geschichte, Zerstreuungseffekte wieder wirksam zu machen und weg von mir selbst, weg vom Authentischen [zu kommen]. Und die Nibelungen, die mir sehr fremd waren erstmal, obwohl ich sie in der Schule gelesen habe, also das Lied, kamen da gerade recht, um etwas wirklich Archaisches, Anderes mir anzuverwandeln."

Alles wieder auf Anfang

Melle hat den Nibelungen in seinem Stück nun eine zweite Chance geschenkt. Auf dem Höhepunkt des Gemetzels fängt die Geschichte einfach noch einmal von vorne an:
"Diesen Figuren wollte ich aus geschichtstheoretischem oder Story-theoretischem Interesse einen neuen Anfang gönnen, um zu sehen, wo genau die Punkte sind und die Weichenstellungen, die die kleinen Einfallstore der Freiheit geben könnten. Weil die Figuren gelenkt zu sein scheinen von einer größeren Macht. Es ist aber hier nichts Theologisches, es ist kein Gott am Werk, sondern es scheint irgendeine Mechanik am Start zu sein, die wie archetypische Schachfiguren über das Brett der Geschichte schiebt. Und dem wollte ich nachforschen – auch dem Begriff Schicksal!"
Hauptfigur wird dabei für Melle der Sohn Kriemhilds, der im Nibelungenlied eigentlich als Fünfjähriger sinnlos ermordet wird, jetzt aber gegen sein Schicksal aufsteht und anschließend durch den Neustart der Geschichte führen darf. Für Thomas Melle hat das auch ganz aktuelle Bezugspunkte:
"Das ist ja das Narrativ der Gegenwart! Dass man auch die Opfer und die zahllosen und namenlosen Toten irgendwie zur Sprache bringt. Und das hat mich an Ortlieb interessiert. Denn jeder kindliche Blick auf diese Strukturen, ob nun Schicksal, Macht, Verrat, hat stets was Revolutionäres, weil er eigentlich die Grundstrukturen noch nicht so übernommen hat oder die Selbstverständlichkeiten, die wir so übernommen haben, noch nicht so sieht. Eine Freundin hat das gelesen und gemeint: Da ist ja Greta Thunberg plötzlich drin! Also dass jemand aufsteht und eine moralisch aufgeladene und zornige Rede hält: Was macht ihr Erwachsenen mit meinem Leben?"

Thomas Melles "Überwältigung", mit Kathleen Morgeneyer und Klaus Maria Brandauer in den Hauptrollen, läuft vom 12. bis 28. Juli bei den Nibelungen-Festspielen Worms.

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