Autopsie einer Auslöschung

Von Susanne Schrammar |
Vor zwei Jahren machte das Schicksal des Hannoveraners Hans-Peter Z. Schlagzeilen. Der Hartz-IV-Empfänger starb auf einem Hochsitz einen selbstgewählten Hungertod. Die Theatergruppe Kulturfiliale hat dazu ein Einpersonenstück inszeniert - mitten in der Fußgängerzone.
Frau mit Megafon: "Wir gehen jetzt gemeinsam zum Treffpunkt für die große Prozession zur Premiere "Alles voll Gewimmels". Bitte folgen Sie dem Schild."

Heute Nachmittag 17 Uhr auf dem Bürgersteig vor dem Schauspielhaus Hannover. Das Publikum hat sich in Zweier-Reihen aufgestellt, jemand hält ein Pappschild mit dem Wort "Prozession" in die Höhe. Als ein junger Mann in blauem Anorak, mit einem Schlafsack unter dem Arm und einem Wasserkanister in der Hand vorbeikommt, folgen ihm die Menschen quer durch die hannoversche Innenstadt. Keiner sagt ein Wort, als sie vorbeigehen an Kaufhäusern, Cafes und Straßenmusikanten. Auch Theaterbesucher Bernhard Bock hat sich in die schweigende Menge eingereiht:

"Wenn ich an den realen Hintergrund denke, komme ich ins Grübeln. Dass die Entwicklung eines Theaterstückes aus realem Lebensraum heraus, also sprich: nachzuvollziehen, dass ein Mensch die sozialen Kontakte in Hannover völlig abbricht, keine Chance sieht, sich aus der Lebenssituation zu befreien, in den Wald geht, um dort zu sterben, ist schon bedrückend."

Das mehrtägige Theaterprojekt, dass die Gruppe Kulturfiliale für das Schauspiel Hannover entwickelt hat, bezieht sich auf den Fall eines Hartz-IV-Empfängers, der sich 2007 im niedersächsischen Solling auf einen Hochsitz zurückgezogen hat, um dort bewusst zu verhungern. Regisseur Marco Stormann:

"Und wir haben das vor einem Jahr in der Zeitung gelesen, wie viele andere auch und uns ist ein bisschen die Kinnlade heruntergefallen und es haben sich sofort die Fragen gestellt danach, in was für einer Gesellschaft wir eigentlich leben, also, was möglich ist. Wir haben gedacht, das müssen wir als eine Theatergruppe zum Anlass nehmen, das theatral zu untersuchen und Gesellschaft infrage zu stellen, auch die Frage zu stellen, ob die Leute überhaupt wissen, in was für einer Gesellschaft sie leben und in was für einer Gesellschaft sie leben wollen."

Der Hochsitz im Theaterstück steht nicht im Wald, sondern mitten in der geschäftigen Hannoverschen Fußgängerzone: Eine Holzhütte auf Stelzen, mit Dach, Fensterluken, einer Tür und einer Sprossenleiter. Hendrik Pohl, gespielt von Phillipe Goos, ist der junge Mann, der mit seinem Schlafsack und dem Wasserkanister hier Zuflucht sucht. Der Ort sei bewusst gewählt, um auch Menschen zu erreichen, die normalerweise nicht ins Theater gehen, sagt Regisseur Strormann. Doch für das Publikum gibt es keine übliche Performance. Nur wer die Sprossenleiter heraufklettert und sich mit der Figur des gescheiterten Studenten unterhält, erfährt etwas über seine Beweggründe, seine Verzweiflung und sein Leben.

"Ich hab mich hierher geführt, weil ich meine Ruhe haben will – vor dem da draußen. Ich hab nichts mehr. Deswegen bin ich jetzt hier und habe meine Ruhe. Ich hatte mal so was wie eine Arbeit oder ich dachte, dass ich so was wie 'ne Arbeit hab. Ich hatte mal so was wie 'ne Freundin – dachte ich jedenfalls – jetzt habe ich eben so lange gar nichts mehr. Und jetzt brauche ich auch gar nichts mehr."

Warten auf den öffentlichen Tod - die Grenze zwischen realer Situation und Inszenierung verwischt dabei. Gespielt wird ohne Textbuch, die situationsbedingte Interaktion mit den Besuchern spielt eine wichtige Rolle, sagt Regisseur Marco Stormann. Neben dem Hochsitz ist in einem Container eine kleine Kapelle aufgebaut. Darin hängen Kopfhörer, über die die Zuschauer Tagebucheinträge des Protagonisten oder Gespräche vorangegangener Begegnungen hören können. Sechs Tage und Nächte wird Schauspieler Phillipe Goos als Henrik Pohl in seinem Hochsitz bleiben, dort schlafen und die einzelnen Stationen des menschlichen Verfalls nachbilden.

"Der Schauspieler Philippe Goos wird essen. Zwar nicht so viel wie normalerweise, aber der wird essen. Henrik Pohl nicht. Das ist ein Unterschied. Man verhungert auch nicht in sechs Tagen. Also, das ist alles theatral, wir werden jeden Tag die Schraube des Hungertodes quasi nach vorne drehen. Das ist auch ganz wichtig: Das ist hier kein Selbsterfahrungstripp, sondern eine theatrale Untersuchung."

Die wird am kommenden Donnerstag mit einem - und wieder ein religiöses Zitat - Abendmahl vor dem Hochsitz enden. Nachdem Henrik Pohl gestorben ist, wird auf den Holzbänken und -tischen vor dem Hochsitz für Besucher ein Festessen serviert.

"Wo im Prinzip ein utopischer Gedanke vollzogen werden soll, dass die Menschen zusammenrücken. Also er musste sich opfern, damit das möglich ist. Und davon bleibt dann hoffentlich etwas im Kopf der Menschen drin."