Automobilität als Lebensform

Wie kann der Verkehrsraum menschlicher werden?

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Das Bild zeigt den Berliner Kaiserdamm im Feierabendverkehr mit voll befahrenen Straßen und mit Autos eng belegten Parkflächen.
Autos überall – dass sie in den Städten mehr und mehr Platz beanspruchen, ist Ausdruck einer Lebensform, die zunehmend infrage steht. © AFP / Odd Andersen
Von Kira Meyer · 19.09.2021
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Autos bestimmen unser Leben – nicht nur, weil sie uns bequem von A nach B bringen, sondern auch, weil große Teile des öffentlichen Raums für sie gemacht wurden. Wie man daran etwas ändern kann, darüber wird aktuell viel diskutiert.
"Wer ist das Subjekt der Geschichte?" – das fragte der Soziologe Stephan Lessenich vor Kurzem in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Nach einem Blick aus dem Fenster fügte er hinzu: "Hier in München offenbar der SUV". Doch ob nun in München oder Hamburg, in Pirna oder Cochem: Schaut man auf die Straßen, bestätigt sich Lessenichs Beobachtung – SUVs, wohin man auch blickt, die Straßen voller Autos und die Landschaft voller Straßen.

Viele Verkehrstote, unwirtliche Lebensorte

Weltweit sterben jedes Jahr 1,3 Millionen Menschen in Folge eines Verkehrsunfalls, so die Weltgesundheitsorganisation. Todesfälle durch verkehrsbedingte Luftverschmutzung sind da noch nicht einmal einberechnet. Damit sterben jährlich mehr Menschen im Verkehr als durch Krieg, Terrorismus oder Genozid. Doch warum organisieren wir unser Leben so sehr um die Automobilität herum – obwohl wir unsere Lebensorte dadurch fast unwirtlich und derart unsicher machen?
Robert Braun, assoziierter Professor am Institut für höhere Studien in Wien und Kurator des "Critical Automobility Studies Lab", sieht den Grund darin, dass es sich bei Automobilität um eine Lebensform handelt: "Unser Leben besteht aus Automobilität. Bei der Automobilität geht es nicht darum, von A nach B zu kommen, sondern um unsere Lebenswelt. Es geht darum, wie wir uns unser Leben vorstellen und wie wir es leben: Wie und warum wir arbeiten, wie wir Gäste empfangen, warum wir uns unseren Urlaub so vorstellen, wie wir ihn uns vorstellen, und so weiter und so fort. Jedes Ziel, jede Hoffnung, jedes Gefühl ist mehr oder weniger eng mit der Automobilität verwoben."
Wirtschaftliche Gründe haben seit dem Aufkommen des motorisierten Individualverkehrs eine zentrale Rolle bei dessen Rechtfertigung gespielt. Daran hat sich seitdem nichts geändert, sagt die Philosophin Jule Lola Olbricht: "Heute ist das definitiv immer noch so, dass die Argumente für Autobahnausbau oder für den Erhalt von Straßen und Wegen für das Auto vor allem mit wirtschaftlichen Argumenten befürwortet werden – und das Interessante daran ist aber, dass die Erhebungen zum Verkehr sich vor allem auf den privaten Personenverkehr beziehen und nicht auf den Wirtschaftsverkehr."

Smarte Alternativen?

Das Design von Umfragen zum Mobilitätsverhalten trägt laut Olbricht sein Übriges dazu bei, dass Automobilität weiterhin nicht nur den Verkehrsraum, sondern auch die Gestaltung des öffentlichen Raumes bestimmt: "Da wird Nicht-Autonutzung oft als Defizit verstanden, weil es eben der Standard ist. Und das geht ja schon in die falsche Richtung. Da müsste man doch eigentlich fragen: Wie kann man das weiter unterstützen? Ein Familienmitglied nutzt das Auto schon nicht. Kriegen die das gut hin? Wie könnten sie es besser hinkriegen, sodass das zweite Familienmitglied vielleicht auch seltener das Auto nutzt?"
Was aber wären Alternativen zur Omnipräsenz des Pkws und der autogerechten Gestaltung öffentlicher Räume? Hört man sich die Zukunftsvisionen von Verkehrsministerien oder Tech-Firmen an, scheint die Antwort klar: E-Mobilität. Robert Braun und das Team vom "Critical Automobility Studies Lab" halten die sogenannte smarte Mobilität aber nicht für die Lösung: "Wir halten das überhaupt nicht für 'smart'. Dadurch wird eine noch umfassendere, noch einheitlichere, aber umso weniger kontrollierbare Situation für uns alle geschaffen. Eine Einheitsgröße für alle. Und ich denke, wenn wir uns unsere Welt neu vorstellen, dann würden wir uns eine vielfältigere Welt vorstellen, Lebensformen, die viel diverser sind."

Was unter dem Pflaster zum Vorschein kommt

Erste Ansätze für eine solche vielfältigere Welt gibt es längst: Bei sogenannten 'Shared Spaces' wird Automobilität beispielsweise nicht mehr als Standard gesetzt und alle anderen Mobilitätsformen ihr untergeordnet. Stattdessen sind alle Personen, die am Verkehr teilnehmen, gleichberechtigt: Anstelle von Ampeln und Bordsteinkanten wird auf die direkte Kommunikation gesetzt. Bereits die Planungsphilosophie ist eine andere, wie Jule Lola Olbricht klar macht:
"Zum Beispiel sperrt man den privaten Automobilverkehr aus einer Straße aus. Und guckt dann erst mal: Was machen denn die Menschen, wenn sie jetzt da ohne Autos lang gehen? Und dann überlegt man sich, nachdem man das beobachtet hat und auch viel gesprochen hat, und mit den Bedürfnissen der Ladenbesitzer:innen vor Ort: Was könnten hier für alternative Wege und Nutzungen entstehen? Und dann erst fängt man an, das umzuplanen. Weil, solang da Autos fahren, ist es schwer vorzustellen, wie man es denn machen würde."
Die 68er skandierten "Unter dem Pflaster liegt der Strand". Vielleicht müssen wir die asphaltierten Straßen und das automobile Denken Stück für Stück aufbrechen, um zu sehen, welche alternativen Gestaltungsweisen unseres öffentlichen Raums möglich sind – und wie paradiesisch diese im Vergleich zur allgegenwärtigen Automobilität sind.
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