Automobilindustrie in der Krise

Die Leiharbeiter trifft es zuerst

07:48 Minuten
Menschen protestieren am 1. Mai 2017 in Berlin mit Plakaten gegen Leiharbeit und berfristete Arbeitsstellen.
Protest gegen Leiharbeit: Viele Zeitarbeiter in der Autoindustrie verlieren zurzeit ihren Job. © imago images / IPON
Von Angelika Hensolt · 27.01.2020
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Die Automobilbranche ist im Umbruch: Aufträge gehen zurück, gleichzeitig müssen die Unternehmen in die Umstellung auf die E-Mobilität investieren. Gespart wird am Personal - und das geht am schnellsten und einfachsten bei den Zeitarbeitern.
Serkan Erkullar kommt gerade von der Nachtschicht. Der Mann aus Ludwigsburg in der Nähe von Stuttgart arbeitet in der Logistik, von kurz vor 22 Uhr bis kurz vor sieben hat er in einem Lager unterschiedliche Autoteile ein- und ausgeräumt.
Jetzt sitzt der 33-Jährige in seinem Wohnzimmer, vor sich auf dem Tisch ein Glas Wasser: "Ziemlich müde, erschöpft, von allem, was man halt in der Nacht so durchgemacht hat in der Arbeit."
Doch nicht nur die anstrengende Schichtarbeit steckt dem zweifachen Familienvater in den Knochen. Dazu kommt die Sorge um seine berufliche Zukunft. Vor knapp einem Jahr hat er seinen Job als Leiharbeiter beim Stuttgarter Autobauer Daimler verloren.

Neuer Job zu deutlich schlechteren Bedingungen

Ein halbes Jahr war er dann arbeitslos – vor ein paar Monaten hat er wieder etwas Neues gefunden, bei der Transport- und Logistikfirma Rhenus – allerdings zu deutlich schlechteren Bedingungen.
Seinen aktuellen Job beschreibt er so: "Also, ich arbeite wieder bei Mercedes und zwar über eine Transportfirma, Rhenus, die den Auftrag von Mercedes übernommen haben. Das ist ein Riesenunterschied."
Als Leiharbeiter bei Daimler bekam Erkullar zuletzt etwa 22 Euro die Stunde, erzählt er. So viel wie auch ein Mitarbeiter der Stammbelegschaft – das ist gesetzlich so geregelt. Die Autoindustrie mit ihren guten Gehältern ist deshalb für Leiharbeiter besonders attraktiv. Jetzt aber ist Erkullar bei einem Logistikunternehmen angestellt.

Niedrigeres Gehalt und Zukunftsängste

Dort verdient er 16 Euro in der Stunde – sechs Euro weniger als als Leiharbeiter. Er, seine Frau und die beiden Kinder müssen jetzt nicht nur mit dem niedrigeren Gehalt, sondern auch mit der Zukunftsangst zurechtkommen. Denn Erkullars aktueller Job ist alles andere als sicher, sondern ist erstmal auf ein Jahr befristet. Wie es weitergeht hängt auch davon ab, wie sich die Autobranche entwickelt und wie es bei Daimler in Zukunft läuft.
"Weil die Wirtschaft ist momentan auch ziemlich schlecht. Das macht mich psychisch fertig", sagt er.
Wie Erkullar geht es derzeit vielen Zeitarbeitern: Sie trifft die Krise in der deutschen Automobilindustrie mit voller Wucht. Die Konjunktur flaut ab, die Aufträge gehen zurück, gleichzeitig müssen die Unternehmen neue Technologien, zum Beispiel für die E-Mobilität, entwickeln und viel Geld in die Forschung investieren. Dazu kommen hausgemachte Probleme wie der Dieselskandal.

"Zuletzt rein und zuerst raus"

Alles zusammen drückt auf die Bilanz der Autobauer, sie müssen sparen. Daimler, Audi und VW haben angekündigt, Personal abzubauen und das geht am schnellsten und einfachsten bei den Zeitarbeitern. Der Sozialwissenschaftler Professor Stefan Sell sagt:
"Es überrascht jetzt nicht, dass an allererster Stelle ein Abbau der Leiharbeiter in den Automobilwerken zu beobachten ist. Der Einsatz der Leiharbeit folgt ja dem Motto: zuletzt rein und zuerst raus."
Nach neuen Zahlen der Agentur für Arbeit ist die Zahl der Leiharbeiter deutschlandweit gesunken: Im ersten Halbjahr 2019 waren es etwa 950.000, das sind fast 90.000 weniger als im Vorjahreszeitraum.
Ingrid Hoffmann leitet eine der größten Zeitarbeitsfirmen in Deutschland. Seit über 30 Jahren "verleiht" sie Beschäftigte an andere Unternehmen, auch an Autobauer wie Daimler. Etliche Firmen, sagt sie, hätten im letzten Jahr Zeitarbeiter abgemeldet.
"Insgesamt gibt es einen Rückgang und zwar bei allen Automobilherstellern, mit denen wir zusammenarbeiten", sagt Ingrid Hoffmann. "Vor zehn Jahren war es ähnlich. Da wurden erst die Zeitarbeiter abgemeldet. Was für die Unternehmen natürlich nachvollziehbar ist, denn aus genau dem Grund arbeiten sie ja mit Zeitarbeitern zusammen, um damit atmen zu können."

Nicht alle Mitarbeiter können "verpflanzt" werden

Für die Mitarbeiter heißt das dann: Sie verlieren erst ihren Arbeitsplatz bei dem entleihenden Unternehmen, dann ihre Anstellung in der Leihfirma. Zwar werden in einigen Branchen, etwa im Dienstleistungsbereich, Leiharbeiter gesucht. Aber die Mitarbeiter einfach von der Autoproduktion in den Servicesektor zu verpflanzen, ist nicht so einfach.
Viele Zeitarbeiter haben nicht nur ihren Job verloren, sondern auch die Aussicht auf einen regulären Arbeitsplatz: Etwa 30 Prozent von ihnen werden im Schnitt nämlich von den entleihenden Unternehmen übernommen. Momentan aber kommt das so gut wie gar nicht vor.
Das ist bitter, sagt Sozialwissenschaftler Stefan Sell: "Für die Leiharbeiter ist das eine schlimme Situation. Sie haben sich enorme Hoffnung gemacht, dass sie dann doch irgendwann übernommen werden, weil der Personalbedarf schon sehr hoch ist. Und diese Hoffnung wird jetzt zerstört."
Auch Personalvermittlerin Ingrid Hoffmann sagt, momentan seien die Chancen gering, dass Leiharbeiter in einen festen Arbeitsplatz übernommen würden. Aber es gibt Chancen, beim Sportwagenhersteller Porsche zum Beispiel. Porsche baut in Stuttgart im Moment die Produktion für einen E-Sportwagen auf und braucht dafür noch Mitarbeiter.
Tatsächlich haben mittlerweile wohl einige der Ex-Daimler-Leiharbeiter dort einen Job bekommen – aber natürlich längst nicht alle.

Auch Festangestellte haben Angst

Auch Serkan Erkullar hatte keinen Erfolg: "Ich habe mich natürlich als erstes bei Porsche beworben. Da habe ich auch ein Vorstellungsgespräch gehabt. Aber leider habe ich genau die Zeit erwischt, wo die die Leute von Audi bevorzugt haben."
Auch bei festangestellten Beschäftigten in der Autobranche geht bereits die Angst um – in den nächsten Jahren gilt für viele eine Beschäftigungsgarantie. Aber dann?
Sozialwissenschaftler Stefan Sell blickt nicht besonders optimistisch in die Zukunft: "Das ist so stark, dieser Strukturwandel, dass es nicht reichen wird, sich von Leiharbeitern und einigen Werkvertragsarbeitnehmern zu trennen, sondern dass jetzt auch die Stammbelegschaft zur Disposition steht. Und wenn das schon solche Umfänge angenommen hat, dann sollte man nicht zu viel darauf wetten, dass in absehbarer Zeit wieder eine neue Welle an Leiharbeitern eingestellt wird."

Kurzarbeit für Leiharbeiter ermöglichen

Trotzdem aber brauchen Menschen wie Serkan Erkullar eine Perspektive. Roman Zitzelsberger von der Gewerkschaft IG Metall in Baden-Württemberg fordert deshalb:
"Wir brauchen dringend Regelungen, dass für beschäftigungsarme Zeiten es wieder für Leiharbeiter die Möglichkeit von Kurzarbeit gibt. Das heißt, dass sie in einem formalen Arbeitsverhältnis bleiben und dort auch entsprechend Bezahlung bekommen. Wir müssen verbesserte Zugänge für das Thema Qualifizierung schaffen. Das heißt, Phasen der Unterbeschäftigung wie jetzt muss man speziell für die Leihbeschäftigten, die keine abgeschlossene Berufsausbildung haben, anbieten."
Die Automobilbranche steckt im Umbruch, nach der Krise wird sie eine andere sein als im Moment, sagt Unternehmerin Hoffmann: "Die Anforderungen der Automobilindustrie werden sich ändern. Es werden andere Qualifikationen nachgefragt werden mit anderen Kompetenzen als bisher."
Auch Serkan Erkullar hat sich schon mal für eine Weiterbildung bei der Arbeitsagentur angemeldet. Dann aber bekam er die Zusage von dem Logistikunternehmen, in dem er jetzt einen Vertrag für ein Jahr hat.
"Jetzt bin ich halt in einer Situation gewesen, wo ich die nächstbeste Arbeit annehmen musste", sagt er. "Weil ich habe eine Familie. Und das muss funktionieren. Das Geld muss irgendwie reinkommen."
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