Autofiktion

Die Probleme der anderen

Menschen suchen am Strand von Hakkeduwa im Süden Sri Lankas nach dem Tsunami nach Überlebenden.
Menschen suchen am Strand von Hakkeduwa im Süden Sri Lankas, dem früheren Ceylon, nach dem Tsunami im Dezember 2004 nach Überlebenden. © dpa/picture-alliance/epa Mike Nelson
Von Carolin Fischer · 20.06.2014
Die Protagonisten mit Elementen aus dem eigenen Leben zu versehen, steht bei französischen Gegenwartsliteraten derzeit hoch im Kurs. So auch in den früheren Büchern von Emmanuel Carrère. In "Alles ist wahr" eignet sich die Figur des Autors die Biografien anderer Menschen an - und findet so zu einem Moment des Glücks.
Seit geraumer Zeit zeichnet sich die französische Gegenwartsliteratur nicht gerade durch ein heiteres Weltbild aus, abgesehen von einigen amüsanteren Ausnahmen wie den Romanen von David Foenkinos. Aber auch dort haben wir es zumeist mit verkrachten Existenzen oder weitgehend kaputten Charakteren zu tun. Gern greifen die Autoren auch auf die Form der Autofiktion zurück, geben einer problembeladenen Figur ihren eignen Namen, versehen sie mit diversen anderen Elementen aus ihrem eigenen Leben, um sie dann auch noch mit den Schwierigkeiten des Schriftstellerdaseins kämpfen zu lassen. So auch Emmanuel Carrère, der uns in seinen Büchern intensiv mit seinen diversen persönlichen Problemen konfrontiert, und dies, wie in "Ein russischer Roman", in mitunter tristestem Umfeld.
Fröhlich kann man die Themen in "Alles ist wahr" ebenfalls nicht gerade nennen: Es geht um die Verheerungen durch den Tsunami im Dezember 2004, den Verlust eines Kindes und um Krebs. Überdies ist die Figur, die die verschiedenen Geschichten verbindet, der Schriftsteller, der sie niederschreibt, den wir eindeutig als Emmanuel Carrère identifizieren können und sollen. Dennoch weicht er hier vom bisherigen Schema ab, was bereits der Originaltitel "D'autres vies que la mienne" (Andere Leben als das meine) verdeutlicht. Es geht also zumindest partiell um das Leben der anderen, insofern als die Figur des Autors sich diese Biografien aneignet, zunächst als Zeuge und dann gezielt als Schriftsteller, der uns von den Erlebnissen und Entwicklungen dieser "anderen" Menschen berichtet.
Trotz aller Katastrophen erstaunlich positiv
Der Wunsch des Autors, den Schicksalen, mit denen er durch die Wechselfälle des Lebens konfrontiert wurde, gerecht zu werden, zeigt sich ebenso in den einfühlsamen, präzisen Beschreibungen wie auch in den unprätentiösen, aber mit großer stilistischer Sorgfalt formulierten Sätzen. Interessant ist dabei vor allem, in welcher Form diese Aneignung erfolgt; in der Fiktion des Textes geschieht dies mal durch Zufall, mal durch gezielte Kommunikation. Der Zufall führt zu der Begegnung im ceylonesischen Urlaubsort mit einem französischen Ehepaar, dessen einzige Tochter in der Welle ertrunken ist. Die spontane Solidarität, die gemeinsame Suche nach der Leiche helfen letztlich dem Erzähler, die gefährdete Beziehung zu seiner Lebensgefährtin wieder zu stabilisieren und in bessere Bahnen denn je zu lenken. Doch darüber wird er erst sehr viel später schreiben. Ganz gezielt hingegen führt er – in der erklärten Absicht, das vorliegende Buch zu schreiben – intensive Gespräche mit einem ehemaligen Kollegen seiner an Krebs verstorbenen Schwägerin, der als Richter mit ihr gegen diverse Ungerechtigkeiten gekämpft hatte.
Wir sind also in einer klassischen Autofiktion, doch ist es eben nur sekundär eine Nabelschau, und trotz aller Katastrophen ist das Buch letztendlich erstaunlich positiv, so dass der "Autor" am Ende von sich schreiben kann: "Ich, der ich im Moment glücklich bin und weiß, wie zerbrechlich das ist".

Emmanuel Carrère: Alles ist wahr
Deutsch von Claudia Hamm
Matthes & Seitz, Berlin 2014
247 Seiten, gebunden, 19,90 Euro

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