Autobiografie

Fernsehantenne nach Westen

Auf das Plakat der Sonderausstellung mit dem Titel "Sandmann, Halstuch und rote Brause - Kindheit in der DDR" schaut eine Mitarbeiterin des Museums Barockschloss Delitzsch, aufgenommen am 26.11.2008 in Delitzsch bei Leipzig.
Plakat der Sonderausstellung mit dem Titel "Sandmann, Halstuch und rote Brause - Kindheit in der DDR" im Museums Barockschloss Delitzsch bei Leipzig. © picture alliance / ZB / Peter Endig
Von Helmut Böttiger · 14.04.2014
Ein atmosphärisch dichtes Zeitbild seiner Kindheit in der DDR zeichnet der - zeitlebens unbekannte - Schriftsteller und Fotograf Michael Schade. Schade wurde nur 39 Jahre alt, er starb im Jahr 2004. Seine Bilder und Prosatexte sind eine Entdeckung.
Dies ist eine Entdeckung, ein Buch mit Fotos und Prosastücken eines Autors, der Zeit seines Lebens unbekannt blieb und im Alter von 39 Jahren im Jahr 2004 gestorben ist. Über die näheren Umstände dieses frühen Todes erfahren wir nichts, im Nachwort gibt es nur spärliche Angaben über die Lebensumstände Michael Schades – umso mehr lässt sich durch die Texte erschließen, die er hinterlassen hat.
Die Fotografie ist diesem Autor sehr wichtig, in etlichen seiner kurzen Texte kommt das zur Sprache: der Ich-Erzähler knüpft Kontakte zu einem Kunstprofessor, vertieft sich in die Materie, aber einen Hochschulabschluss bringt er nicht zustande. Dafür sind diesem bibliophil aufgemachten, sorgsam hergestellten Bändchen einige seiner Fotos wiedergegeben: eine Vorliebe für Stillleben ist zu erkennen, beiläufig daherkommende, aber markant ausgeschnittene Phänomene des Alltags – ein Clown, der über eine Straße läuft und von dem nur die Füße zu sehen sind, oder eine Spur, die jemand gerade mit einem Stock durch den Erdboden zieht. Schades Ästhetik zeigt sich vielleicht am deutlichsten in einem Foto, auf dem Telegrafendrähte zu sehen sind, vor denen Wäsche auf Leinen aufgehängt ist, im Vordergrund sieht man große, fliegende Teddybären: hier wird Natur sofort artifiziell, assoziative Bezüge stellen sich her.
Kunstvoll verknappte Prosa
Ähnlich ist auch die Prosa Schades gearbeitet: In den letzten Jahren seines Lebens wurde die Literatur für ihn immer wichtiger, und er beschrieb in kunstvoller, verknappter Prosa Szenen seiner Sozialisation. Zentrale Begebenheiten, emotionale Fixpunkte sind dabei ausgespart oder auf das Wesentliche reduziert. Die Gefühle und die Erlebnisse bekommen etwas Abstraktes. Jeder Satz verweist auf etwas Symbolisches. Dabei sind die Sätze leicht und keineswegs mit Bedeutung aufgeladen. Groß und widersprüchlich wird aber gerade das, was weggelassen wird.
"Irreguläre Tage": dieser Titel, in dem etwas Autobiografisch-Absolutes mitschwingt, geht von einer konkreten Situation aus. Der Vater, bei dem der Ich-Erzähler eine Zeit lang in Frankfurt an der Oder in den 80er-Jahren lebt, ist Krankenhausarzt. Wenn er nach Operationen einen Tag frei hat, bezeichnet er dies als "irregulären Tag": er bleibt zuhause und dreht die Fernsehantenne nach Westen.
Klein angedeutete, große Sehnsucht
Die Kindheit in der DDR wird von Michael Schade in sehr präzisen Skizzen erfasst. Eine sehr schöne Überblendung gelingt ihm mit der Geschichte vom Fußball, den er versehentlich durch die Fensterscheibe seiner Schule schießt. Überraschenderweise schützt ihn sein Vater, denn dieser hat eine ähnliche Geschichte in seiner Kindheit erlebt. Dabei wird nichts auserzählt; in kleinen Andeutungen entfaltet sich eine große Sehnsucht.
Je näher die Geschehnisse in die Gegenwart rücken, desto fahriger erscheinen die Texte Michael Schades. Es wird deutlich, dass er die Zeit nach 1989 nicht verkraftet, dass er das Outlaw-Dasein in der DDR weiterführt, zwischen Bohemien und Sozialfall nicht mehr unterscheiden kann, der Alkohol spielt eine wesentliche Rolle. Beeindruckend das Schlussbild in einer Telefonzelle, als er eine nicht näher bekannte Frau anruft und seine völlige Isolation deutlich wird. Was aus diesem Autor hätte werden können, ist eine spannende Frage. Das Buch zeigt ästhetisch hochinteressante Ansätze und ist gleichzeitig ein atmosphärisch sehr dichtes Zeitbild.

Michael Schade: Irreguläre Tage
Spector Books, Leipzig 2014
223 Seiten, 19,90 Euro

Mehr zum Thema