Autismus

Ein Schritt vor die gläserne Mauer

Von Petra Marchewka · 10.03.2014
Peter Schmidt hat einen IQ von über 130 und gilt als hochbegabt. Dafür kann er nicht in den Gesichtern von Menschen lesen. Wie sich das anfühlt, beschreibt er in seinem Buch "Der Junge vom Saturn".
"Hier unten sind wir in meinem Wohnzimmer, unserem großen Wohnzimmer …"
Auf den ersten Blick ist bei den Schmidts alles so wie bei Müller, Meier, Schulz.
"Man guckt hier auch raus, direkt ins Grüne in unseren wunderschönen Obstgarten, man hat irgendwie so das Gefühl, dass man mitten im Grünen sitzt …"
Ein hübsches Einfamilienhaus, im Garten alte Obstbäume, im Keller selbstgemachte Marmelade und Kompott.
"Auf zwei Seiten habe ich hier ein Fenster, ich bin hier nicht eingeengt durch Mauern, sondern ich bin mittendrin."
Anders aber als bei Müller, Meier, Schulz ist dieses adrette Einfamilienhaus das Zuhause eines Raumfahrers und seiner Familie, dem die Erde zuweilen wie ein fremder Planet erscheint. "Der Junge vom Saturn": Das ist er selbst, Peter Schmidt.
"Der Junge vom Saturn bedeutet, dass ich mich schon als kleiner Junge immer als Außerirdischer gefühlt habe und ich habe auf all meine Schulhefte den aufgehenden Saturn über dieser Mondoberfläche dargestellt, und damit wurde ich für die Mitschüler, und irgendwann habe ich das für mich selber auch so adoptiert, der Junge vom Saturn."
Schmidt, dem der Aufbau eines Gebirges mehr sagt als die Mimik eines Menschen, lebt hier in Lahstedt bei Peine in Niedersachsen gemeinsam mit seiner Frau Martina, dem 18-jährigen Sohn Raphael und der 15-jährigen Ramona. Eine Herausforderung, das Schmidtsche Familienleben, sagt Martina Schmidt.
"Schwierig ist es immer dann, wenn Peter nervös wird, wenn sein Plan gerade wieder den Bach runter geht. Dann kann es sehr unangenehm werden und dann braucht er auch das Gefühl der Sicherheit, das ich ihm dann vermitteln muss."
Als Kind interessierten ihn Rohre und Kakteen
In "Der Junge vom Saturn" erzählt Peter Schmidt auf amüsante, fesselnde Weise von seinen ersten Lebensjahren, wo ihn vor allem Rohre, Kakteen und Straßen interessieren. Als er drei ist, bringt er sich selbst das Lesen bei. Schmidt erinnert sich auch an die Zeit vor seiner Geburt und findet für seine Eindrücke fantasievolle Begriffe: das "wummernde Dutumm" zum Beispiel ist der Herzschlag im Mutterbauch, das "Wattewischelwuselweichweiß" sein Kinderbett. Von Seite zu Seite wächst beim Leser die Bewunderung dafür, mit welcher Hartnäckigkeit sich Schmidt durch eine Welt voller Fragezeichen beißt. Als er in der zehnten Klasse ein Referat halten muss, besucht er zum Beispiel einen Rhetorik-Kurs bei der Volkshochschule.
"Da wurde die Kamera eingesetzt und ich habe mich erstmalig selber gesehen. Was ist das denn? Du wirkst ja total behindert! Du musst unbedingt an dir arbeiten! Und da hat man mir auch gesagt: 'Herr Schmidt, Sie müssen die Leute angucken, wenn Sie mit denen reden!'"
Angucken. Das ist so eine Sache. Den Blick in die Augen eines anderen erträgt er nicht. Die Augenfarbe seine Frau Martina hat er jahrelang nicht gekannt.
"Direkt in die Augen zu gucken ist so, als wenn man direkt in die Sonne guckt. Das kann ich ganz kurz machen, aber dann muss ich auch wieder vorbeischielen."
Der dunkelblonde, sportliche Mann in Jeans und schwarzem Sweatshirt setzt sich an seinen hölzernen Esstisch neben dem Wohnzimmer und starrt konzentriert in den Raum, während er redet. Alles hier ist ordentlich und aufgeräumt, alles hat seinen Platz. So wie das Äußere sind auch seine Gedanken klar strukturiert, Einwürfe und Zwischenfragen bringen Peter Schmidt aus dem Konzept. So wie die Plastikflasche auf dem Tisch, die er plötzlich mit einer unvermuteten Handbewegung zur Seite räumt, weil sie ihn im Denken behindert.
"Irgendwie ist die Flasche im Weg, ich muss da frei blicken können."
Peter Schmidt habe nie wirklich Zugang zu seinen Kindern gefunden, erzählt seine Frau, das kreative Chaos, das Kinder in ein Haus bringen, muss für den Autisten schwer zu ertragen gewesen sein.
"Deswegen war es immer so, dass ich für die Kinder da war und für ihn auch da war. Manchmal kam es mir so vor (lacht), als ob ich drei Kinder gehabt hätte."
Promovierter Geophysiker und IT-Experte
Peter Schmidt, der einen IQ von über 130 hat und im Mensa Club der Hochbegabten ist, schafft es trotz des Mobbings in Schule und Beruf, promovierter Geophysiker und IT-Experte zu werden. Erst vor sechs Jahren erfährt er zufällig in einer Fernsehsendung, dass sein Problem einen Namen hat. Für ihn ist die Erkenntnis Schock und Erleichterung zugleich. Ärzte und Therapeuten raten ihm, seinen Autismus öffentlich zu machen. Schmidt hält Vorträge auf Fachkongressen und bei Selbsthilfegruppen, erzählt, wie es in ihm aussieht und wie das Außen auf ihn wirkt.
"Und das hatte tatsächlich positives Echo. Ach so ist das also, Herr Schmidt. Jetzt verstehen wir."
Peter Schmidt lächelt freundlich – wie das geht, hat er lange vorm Spiegel geübt – und zeigt auf das Keyboard in der Computer-Ecke. Vor ein paar Jahren hat er zusammen mit einem Kollegen ein eigenes Lied aufgenommen, "The Vainy Mountain Road". Darin beschreibt er sein autistisches Lebensgefühl.
"Ja, ich sehe mein ganzes Leben so synästhetisch als Straßenverlauf, und je leerer und je mehr geradeaus die Straße geht, desto fröhlicher bin ich und je mehr Kurven und je mehr Verkehr und Stau auf dieser empfundenen Straße ist, desto mehr drückt das aus: Ich fühle mich jetzt unwohl, bedrängt oder was auch immer."
Peter Schmidts Buch der "Der Junge vom Saturn" wirkt wie ein Befreiungsschlag, ist ein weiterer mutiger Schritt auf die andere Seite dieser gläsernen Mauer, die zwischen ihm und den anderen besteht.
"Ja, und aus den ganzen Steinen, die man mir in den Weg gelegt hat, oder die mir im Weg lagen, und damit meine ich die ganzen autismusbedingten Probleme, aus denen kann ich jetzt noch ein schönes Gebäude bauen."
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