Schreckenskabinett in Wachs

Ausgehend von einem historischen Wachskabinett nimmt die Dresdener Ausstellung den Körper ins Visier - und landet im Zusammenspiel mit zeitgenössischer Kunst bei einem existentiellen Grundthema: der Gratwanderung zwischen Lust und Tod.
Ein schwarz-krustiges Geschwür kräuselt sich auf der Oberlippe der blond gelockten jungen Frau. Bei dem Männerkopf daneben hat die Syphilis Nase und Mund angefressen. Die beiden Wachsköpfe demonstrieren plastisch, wie ein Kuss die Seuche übertragen kann. Geschickt hat das Wachskabinett einst mit Lust und Schrecken des Publikums gespielt. Die naturgetreuen Nachbildungen von Warzen und Wundbrand bewegten sich zwischen medizinischer Aufklärung und Schreckenskabinett. Für die Ausstellung "Blicke! Körper! Sensationen!" im Dresdner Hygiene Museum hat die Kuratorin Eva Meyer-Hermann nach der Herkunft der Objekte geforscht. Einer der Modelleure war Rudolph Pohl. Ende des 19. Jahrhunderts produzierte er Organe aus Wachs sowohl für Mediziner als auch für Schausteller.
"In der Ausstellung sehen wir auch seine Musterbücher, sind ganz große Fotoalben, wo alles mit Fotos abgebildet war, was er anbieten kann. Vom kleinen Embryonalmodell hat er angeboten, bis zur Darstellung von Homosexuellen, wie man das sich biologisch noch erklärt hat, dass die ein unterschiedliches Nervensystem am After haben."
Im ausgehenden 19. Jahrhundert vergewisserte sich das aufstrebende Bürgertum seiner eigenen Identität, indem es vermeintlich Abnormes ausgrenzte. Krankheit, Handicap, aber auch Schwangerschaft. Mit den Fortschritten der Medizin wuchs das Interesse an dem Blick ins Innere des Körpers, die Grenzen der Intimität verschoben sich. Auf dem Jahrmarkt wurden die Unterleibs-Darstellungen in einem Extra-Kabinett gezeigt. Für Männer und Frauen waren gesonderte Besuchstage vorgesehen. Aber die Schausteller umwarben die Jahrmarktsbesucher auch in aller Öffentlichkeit mit einer Mischung aus Sex und Tod.
"Es gab immer so eine Veranda, da stand oft eine Orgel und dann gab es in der Auslage da lag dann schon mal eine Figur. Eine Figur, die auch wir in der Sammlung haben, ist das Mädchen vom Blitz erschlagen. Und jetzt sieht man diese Blitzabdrücke bei ihr am Körper. Spannend ist, dass das Kleid dann auch soweit runter gezogen ist, unter den Busen, dass man auch den Busen noch sieht."
Um die Reaktion der Besucher zu reflektieren hat das Deutsche Hygiene Museum jetzt einen Audioguide mit kurzen Hörspielepisoden produziert.
"Die ist vom Blitz erschlagen worden. Guck mal, die Muster auf der Haut. Wie eine Zeichnung."
Die geheimnisvolle Aura von Wachs
Die glatten Gesichter der Figuren irritieren in ihrer sanften Schönheit, auch dann noch, wenn der Rumpf aufgeschnitten ist. Das liegt an der geheimnisvollen Aura von Wachs.
"Vor der hohen Kunst der Wachsbildhauerei hat das einfach eine Tradition als ein Medium, was vielleicht genauso zart und sensibel ist, wie die Haut eines Menschen sensibel ist. Das war schon immer bei Bildhauern beliebt, weil man ganz nah an die Realität kommen konnte. Wachs ist fast schon lebend, weil es auch so empfindlich ist."
Das historische Wachskabinett bildet jedoch nur den inneren Kern der Dresdner Ausstellung. Die Kunst der Gegenwart nimmt das existenzielle Grundthema des Wachskabinetts auf, die Gratwanderung zwischen Lust und Tod.
"Dazwischen passiert es, zwischen der Erschaffung der Welt aus den Schenkeln der Frau, Courbet konnten wir leider nicht ausleihen, aber eine Courbet Paraphrase von Rosemarie Trockel schon, und ein wunderschönes kleines Relief von Duchamp, wo für Künstler die weibliche Scham als Ursprung der Kreativität gesehen wird. Und auf der anderen Seite, ist ein kleines Werk von Damien Hirst in der Ausstellung, eine Fotografie, wie der Künstler sich neben einem toten Kopf, also nicht einem Totenkopf, sondern einem Leichenkopf zeigt."
Im Zusammenspiel erzählt die Ausstellung vom Blick auf den Körper. Lange war das ausschließlich der männliche Blick auf den weiblichen Körper. Schon Albrecht Dürer zeigte etwas süffisant den Künstler beim Suchen der Zentralperspektive. Der Blick des Zeichners zielt geradewegs auf den Schoß des Modells. Im spannendsten Moment dieser Ausstellung drehen die Künstlerinnen den Blick um und erwidern die Aggressivität des Voyeurismus. Bei Rosemarie Trockel schlüpft eine schwarze Riesenspinne zwischen den weiblichen Schenkeln hervor. Valie Export zelebriert Pussy Power in einer Hose, die im Schritt ausgeschnitten ist. Und Pipilotti Rist wertet in ihrem Blutclip Menstruationsblut in funkelnde Edelsteine um.
So ganz passen zeitgenössische Kunst und Kuriositätenkabinett jedoch nicht zusammen. Während die abgeklärte Avantgarde die Reize reduziert, packt das Panoptikum die Besucher bei den Instinkten – Ekel, Neugier, Panik. Interessant wäre, diesen atavistischen Reaktionen auf den Grund zu gehen. Denn bis heute lösen die gruseligen Darstellungen von Seuchen und Siechtum auch peinlich vergnügliche Schauer aus.