Ausstellung

Die Schönheit der Schrift

Der Berliner Rabbiner Reuven Yaacobov demonstriert am 03.04.2014 im Jüdischen Museum Berlin in der Ausstellung "Die Erschaffung der Welt", wie eine Thorarolle gemäß der überlieferten Vorschriften geschrieben wird.
Der Rabbiner Reuven Yaacobov demonstriert in der Ausstellung, wie eine Thorarolle gemäß der überlieferten Vorschriften geschrieben wird. © picture-alliance / dpa / Tim Brakemeier
Von Sieglinde Geisel · 06.07.2014
Besonders aufwendig von Hand beschriebene Schriftrollen sind zurzeit im Jüdischen Museum Berlin ausgestellt: "Die Erschaffung der Welt" zeigt, wie wichtig die im digitalen Zeitalter bedrohte Kulturtechnik des Schreibens noch ist.
Judentum, Islam und Christentum werden als Schriftreligionen bezeichnet, denn ihre Überlieferung gründet sich auf schriftliche Dokumente: den Koran, die Bibel. Von der "Heiligen Schrift" spricht man in allen drei monotheistischen Religionen, doch den Gedanken, dass die Schrift selbst tatsächlich heilig sein kann, kennt nur das Judentum. Im Gottesdienst dürfen nur Schriften verwendet werden, die unter der Einhaltung ganz bestimmter Regeln entstanden sind.
Die Judaistin Annett Martini zur Bedeutung des "rituellen Schreibens" an der Freien Universität ein Seminar.
"Rituelles Schreiben betrifft eigentlich nur ganz bestimmte Texte, die sogenannten STAM. Das ist ein Akronym und steht für Sefer, Thora, Tefillin und Mesusot. Rituelles Handeln, damit meine ich einen etwas weiter gefassten Begriff als das Ritual selbst, insofern als dieses Schreiben sehr starken Regeln unterzogen ist. Das betrifft das Material, das koscher sein muss, koscher in dem Sinn, dass nur koschere Tiere für die Pergamentherstellung – es muss immer auf Pergament geschrieben sein und die Haut muss von koscheren Tieren stammen. Dazu gehört auch ein absolut festgelegtes Layout, immer natürlich derselbe Text. Es wird sehr sehr streng darauf geachtet, dass wirklich kein Buchstabe fehlt, keiner hinzugefügt wird. Dazu gehört eine wirklich super exakte Anweisung für die Buchstaben. Für jeden einzelnen Buchstaben gibt es ungefähr 20 Regeln, wie er auszusehen hat, dieser Buchstabe."
Weltweit bedeutendste Privatsammlung von Judaica
Noch bis Anfang August ist im Jüdischen Museum Berlin die Ausstellung "Die Erschaffung der Welt" zu sehen, mit jüdischen Handschriften der Braginsky-Collection, aus dem Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert. Der Schweizer Sammler René Braginsky hat die weltweit bedeutendste Privatsammlung von Judaica zusammengetragen, und Berlin ist bereits die fünfte Station dieser schönen Ausstellung.
Nachmittags kann man in der Ausstellung oft dem Thora-Schreiber Reuven Yaacobov bei der Arbeit zuschauen, dem Rabbiner der orthodox-sephardischen Gemeinde in Berlin. Nicht nur für die Schreibmaterialien gelten strenge Regeln, sondern auch für den Schreiber selbst:
"Zuerst muss er ein religiöser Mensch sein. Zweitens muss er verstehen, dass er jetzt eine heilige Schrift schreibt. Und bevor man diese heilige Schrift schreibt, gibt es ein besonderes Gebet, nach dem Gebet darf man nicht mehr sprechen, man muss sich konzentrieren und einfach schreiben. Es gibt auch, bevor man den Namen von Gott schreibt, auf Deutsch heißt das: Hiermit schreibe ich jetzt den Heiligen Namen von unserem Gott, dann darf ich das schreiben, vorher nicht. Und wenn ich das einmal geschrieben habe ohne das Gebet, dann darf ich das nicht benutzen. Das ganze Pergament muss ich neu nehmen, weil den Namen von Gott kann man nicht korrigieren, sogar nicht einen Buchstaben beschädigen."
Das Schreiben der Thora verbindet den Schreiber mit den Ursprüngen seiner Religion:
"Die ganze Geschichte von den Thorarollen hat mit Mose angefangen, er hat die Thora am Berg Sinai bekommen, und dann, Wort nach Wort von Gott gehört und dann hat er das geschrieben, und bevor er gestorben ist, hat er dreizehn Sefer Thora, also 13 Thorarollen geschrieben, und jeder Stamm hat eine Rolle bekommen, und eine Rolle wurde im Tempel aufbewahrt, und jetzt, wenn ich die Thora schreibe, sind es die genau gleichen Buchstaben, und ich habe das Gefühl, ich selbst schreibe die Worte, die damals der Moses geschrieben hat."
Der Tempel wurde bekanntlich im Jahr 70 unserer Zeitrechnung zerstört. Was den Juden in der Diaspora blieb, war die schriftliche Überlieferung – die heilige Schrift.
Annett Martini: "Das Ganze setzt sehr auf Lesbarkeit. Und dass der Text genauso erhalten bleibt wie eben vor 2000 Jahren. Und ich denke, dass der Grund sicher in der politischen und sozialen Situation der Juden in der Diaspora liegt, dass ein Volk, das auf so viele verschiedene Länder verstreut ist... dass es, um die Identität zu bewahren, es sehr darauf geachtet hat und dass es wirklich auch absolut notwendig ist, diesen Text in exakt derselben Gestalt zu bewahren wie eben vor 2000 Jahren, als der Tempel noch stand. Es gibt keine nationalen Grenzen, man kann sich nicht abgrenzen gegen andere Kulturen, und man sucht sich im Grund genommen geistige Grenzen."
An jedem Buchstaben hängt die Heiligkeit
Die Heiligkeit der Schrift hängt an jedem einzelnen Buchstaben: Wer der Thora einen Buchstaben hinzufüge oder wegnehme, zerstöre damit die Welt, heißt es in einer Geschichte des Talmud, und es gibt noch mehr solche Geschichten,
Annett Martini: "Zum Beispiel die Midraschim das Rabbi Akiba, wo jeder einzelne Buchstabe vor Gott tritt und fragt, warum nicht er als erster Buchstabe, warum Gott nicht mit diesem Buchstaben die Thora begonnen hat, mit diesem Buchstaben praktisch diese ganze Welt erschaffen hat. Die Buchstaben kommen hoch und sagen: Aber dieses und jenes Wort beginnen doch mit mir. Und Gott sagt: Ja, aber an der und der Bibelstelle siehst du doch auch, dass das und das Wort auch mit dir beginnt. Und so fragt jeder einzelne Buchstabe, ist ganz traurig darüber, dass nicht mit ihm die Thora beginnt, bis am Schluss das Beit, also Bereschit, das ist der erste Buchstabe der Thora, hervorkommt und dann Gott eben sagt: Du bist der erste Buchstabe des Worts Bracha, also Segen, und deshalb habe ich mit dir die Thora begonnen. Also es gibt sehr viele kleine Geschichten in diese Richtung, die auf unterschiedlichen Ebenen die Buchstaben auf so eine metaphysische Ebene ziehen und das ganze Schreiben dadurch auch auf eine metaphysische Ebene ziehen."
Was für eine Motivation haben die jüdischen Schreiber heute, sich dem strengen Exerzitium des rituellen Schreibens zu unterziehen? Annett Martini hat in Israel recherchiert:
"Ich habe einige Schreiber befragt, und die meinten, dass sie diese Trennung von Beruf und religiösem Leben nicht so scharf haben wollen. Das sind Leute, die in ihrem Beruf ganz nah an den Heiligen Schriften dran sein wollen, die ihre Religion praktisch zum Beruf machen. Manche kamen aus dieser New Age-Ecke, für die war das eine Art persönliche Meditationstechnik, dieses heilige Schreiben, das ja in sehr strengen Bahnen stattfindet, die empfinden das als Meditation, auch ein Zurücktreten von diesem eigenen Ich. Für andere war es, die kamen eher aus einem säkularen Bereich, die haben wieder zum Schreiben gefunden oder haben überhaupt sich dem Schreiben angenähert, um sich auch ihrem Jüdischsein wieder anzunähern. Also einige sind wirklich durch das Schreiben religiös geworden. Andere, aus dem ultraorthodoxen Bereich, die wollen einfach immer in diesem heiligen Raum sein. Das heißt es: Wir produzieren hier keduscha, wir sind hier in einem heiligen Raum, und wir wollen immer in diesem heiligen Raum sein."
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