Aussteigerhaus Barata in Jerusalem

Neustart für ultraorthodoxe Juden

09:43 Minuten
Auf dem Bildschirm eines Smartphones ist ein schlaksiger junger Mann mit Brille und Schläfenlocken zu sehen.
Bruch mit den Regeln der Vergangenheit: Bis vor wenigen Jahren trug Isaak noch Schläfenlocken und Kippa und lebte streng nach religiösen Vorschriften. © Felix Wellisch
Von Felix Wellisch · 29.01.2023
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In Israel nimmt der Einfluss des ultraorthodoxen Judentums stark zu. Gleichzeitig steigen immer mehr Menschen aus dieser Form des Glaubens aus. Doch der Neustart fällt vielen schwer. Das Barata, ein Kulturzentrum in Jerusalem, hilft dabei.
Eine Sirene kündigt in Jerusalem am Freitagabend den Beginn des Schabbat an. Im jüdischen Westen der Stadt wird der Verkehr eingestellt und alle Geschäfte werden verriegelt. Doch aus einer Seitenstraße direkt neben dem sonst lauten und geschäftigen Yehuda-Markt kommt Licht und Musik. Auf der Terrasse vor dem niedrigen Haus, in dem das Barata liegt, steht ein weißes Zelt. Darin drängen sich schon ein paar Dutzend Besucher, immer wieder kommen weitere dazu.
Manche sind noch Teenager, manche schon 40 oder 50 Jahre alt, zwischen ihnen spielen Kinder. Manche tragen Kapuzenpulli, andere eine Kippa. Gemeinsam haben sie alle, dass sie aus ultraorthodoxen jüdischen Familien kommen und sich irgendwann für einen anderen Weg entschieden haben.

Nach dem Ausstieg auf sich gestellt

"Der Ort hat mir sehr geholfen am Anfang", sagt Isaak, ein drahtiger 27-Jähriger. "Ich habe schon mit 21, 22 gewusst, dass ich irgendwann nicht mehr religiös leben würde. Aber als ich vor drei Jahren ausgestiegen bin, war ich erst einmal ganz allein. Ich kannte niemanden."
Vor einigen Jahren habe er noch Schläfenlocken, einen schwarzen Mantel und einen Hut getragen und sei verheiratet gewesen, erzählt Isaak und zeigt Fotos auf seinem Smartphone. Heute trägt er einen Pulli und Jeans. Seine Ehe sei geschieden.
"Nach meinem Ausstieg saß ich am Freitagabend in meinem Zimmer und wusste nicht, was ich tun soll", erinnert sich Isaak. "Ich bin Krankenwagenfahrer und habe irgendwann einem Kollegen erzählt, dass ich den Schabbat nicht mehr einhalte. Da sagte der: Ich auch, und dass es da diesen Ort namens Barata gebe, der mir gefallen könnte." Nervös sei er bei seinem ersten Besuch gewesen, unsicher, wer ihm hier begegnen würde. "Und wer kommt durch die Tür? Der Bruder von meiner geschiedenen Frau", erzählt Isaak. "Heute sind wir gute Freunde."

Vertraute Wärme ohne die strengen Regeln

Neben der Türe zum Haus steht Yoni Klapholtz, in der Hand eine Zigarette und einen Pappbecher mit Instantkaffee. Er hat das Barata vor etwa fünf Jahren gegründet und ist selbst ein Aussteiger. Er hätte sich auf seinem eigenen Weg einen solchen Ort gewünscht, sagt er: einen Ort, an dem es das gibt, was vielen nach dem Bruch mit ihren Familien fehlt: Gemeinschaft, Wärme, Vertrautes, nur ohne die strengen religiösen Regeln.
"Ich habe immer nach Gott gesucht", sagt Klapholtz. "Aber ich habe irgendwann verstanden, dass ich diesen strengen Gott der vielen Regeln nicht mit mir vereinbaren kann. Aber wer in der ultraorthodoxen Gemeinschaft aufwächst, in der er genau weiß, was und wer er ist, und dann plötzlich in die große individualistische Welt geworfen wird: Das ist eine Tragödie."
Zwei Männer und eine Frau freuen sich über ein mit Sesam bestreutes Brot, das frisch vom Backblech auf den Tisch kommt.
Wahlgemeinschaft: Im großen Saal findet die Schabbat-Feier statt. Das Challa-Brot gehört traditionell dazu.© Felix Wellisch
Die Haredim, also die Gottesfürchtigen, haben oft Thoraschulen besucht, manche haben nie Mathe oder Englisch gelernt. Vielen fehlt grundlegendes Wissen, um außerhalb der religiösen Welt zu bestehen. Doch auch der Abschied von der alten Welt fällt vielen nicht leicht, sagt Yoni Klapholtz.

Die Leute kommen hierher, weil sie sich selbst vermissen und die Dinge, die sie mit ihrem Aufwachsen verbinden: Gerüche, das Essen am Schabbatabend, die Lieder. Viele hier reden Jiddisch untereinander, weil in ihren Familien Jiddisch gesprochen wird. Als wärst du ein Auswanderer in einem fremden Land: Wenn du jemanden hörst, der deine Sprache spricht, dann wachst du innerlich auf.

Yoni Klapholtz, Gründer des Aussteigerhauses Barata

Als Yoni die Türe zur großen Halle öffnet, wird klar, was er meint: Auf langen Tischen stehen Unmengen an dampfendem Essen: gegrillte Aubergine, Reis, Hähnchen und dazwischen ein langer Challa-Zopf, ein Brot, das in vielen jüdischen Familien fest zum Abendessen am Freitag gehört. Weiter hinten spielen zwei Besucher das Lied "Shalom Aleichem", mit dem traditionell der Schabbat begrüßt wird.

Das Barata ist offen für alle

Finanziert wird das Barata aus Spenden, erklärt Yoni. Viel habe er aber auch aus seinen eigenen Mitteln bezahlt. Neben den Schabbatessen sei das Haus durchgehend als Anlaufstelle geöffnet, betreibe ein kleines Café und biete Übernachtungsmöglichkeiten. Der Ort solle offen sein für alle, egal, wie sie es für sich halten mit der Religion.
Yoni Klapholtz hat die Sonnenbrille in die Stirn geschoben und steht lächelnd vor einem  Bücherregal.
Ein Raum für Leute, die ihren eigenen Weg gehen: Yoni Klapholtz hat das Barata gegründet.© Felix Wellisch
"Ich mache hier keine Regeln", sagt Yoni Klapholtz. "Ich habe diesen Raum gegründet für Leute, die ihren eigenen Weg gehen müssen, um ihnen den Boden zu bereiten, sich so zu entwickeln, wie sie wollen."
Mit Blick auf die wachsende Zahl der Aussteiger unter den Haredim werden oft drei Gründe genannt: das Internet, der Wunsch nach einem höheren Lebensstandard und paradoxerweise das große Wachstum der ultraorthodoxen Gemeinschaft. Heute haben zwei von drei Haredim in Israel einen Internetzugang und kommen dadurch mit Einflüssen von außen in Berührung.

Ausbruch aus der Welt der Eltern

Wirtschaftlich gehören die meisten Strenggläubigen zum ärmsten Teil der israelischen Bevölkerung. Viele junge Haredim wollen sich mit den niedrigen Ansprüchen ihrer Eltern aber nicht mehr zufriedengeben. Für Arbeit oder Studium verlassen sie deren abgeschottete Welt.

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Drittens funktionieren die traditionellen Kontrollmechanismen in der Haredim-Gesellschaft nicht mehr wie früher. Die hierarchische und auf die Rabbiner ausgerichtete Ordnung stößt angesichts der fast 1,3 Millionen israelischen Ultraorthodoxen an ihre Grenzen.
Durch einen Hauseingang sind Leute im Gespräch zu sehen. Ein Mann im schwarzen T-Shirt hält ein Mädchen auf dem Arm.
Viele Gesichter, viele Geschichten: Für den Bruch mit der streng religiösen Herkunft hatten alle ihre eigenen Gründe.© Felix Wellisch
Wer sich unter den Gästen des Barata umhört, stößt daher auf die unterschiedlichsten Geschichten, warum sie das streng religiöse Leben aufgegeben haben. "Ich möchte studieren und arbeiten, meine Träume verwirklichen und vor allem das Leben so viel wie möglich genießen", sagt eine Frau. "Darum sind wir meiner Meinung nach auf der Erde. All das ging nicht. Da habe ich verstanden, dass ich keinen Platz in der religiösen Gesellschaft habe."

Ein neues Verhältnis zum eigenen Glauben

Chaim hat eine andere Geschichte. "Ich habe es mit den religiösen Regeln schon früh nicht so ernst genommen und trotzdem glaube ich an Gott", sagt er. "Das weiß auch mein Rabbi in der Thoraschule. Ich habe mir vor einem halben Jahr die Schläfenlocken abgeschnitten, aber ich bin nicht aus der religiösen Welt ausgestiegen. Ich musste nur einige der Dinge loswerden, die mir dort nicht gefallen haben. Ich spüre da keinen Konflikt."
Ein Mann mit grauen zerzausten Haaren spielt auf einer Art Laute, ein junger Mann im Hintergrund singt dazu.
Musik verbindet: Viele Lieder sind für die Menschen im Barata Teil ihrer Identität.© Felix Wellisch
Schlomo macht nur noch für die Familie Kompromisse. "Ich bin überhaupt nicht mehr religiös, aber ich passe mich noch manchmal an diesen Lebensstil an. Ich ziehe zum Beispiel die ganze orthodoxe Kleidung an, wenn ich meine Familie oder meine Kinder am Wochenende sehe. Sie wissen noch nicht, dass ich nicht mehr religiös lebe."

Flucht vor der gewalttätigen Familie

Während die Schabbatfeier weitergeht, haben sich in einem der kleinen Büros zwei junge Frauen zurückgezogen. Sie brüten über einem Laptop, neben ihnen liegt eine Videokamera. Sie stellen sich als Sara F. und Sara K. vor. "Wir studieren an der Filmschule in Jerusalem. Das ist unser erster Film, wollt ihr die Geschichte hören?", sagt Sara K. und fährt fort: "Es geht um eine junge Frau, die auf der Straße gelandet ist. Es ist Nacht. Sie klopft bei verschiedenen Wohnungen an, aber die Leute schlagen ihr die Türen vor der Nase zu." Sie wüssten noch nicht, wie der Film enden soll, ergänzt Sara F.: "Alle unsere Ideen waren bisher ziemlich düster. Ich glaube, weil es nahe an unseren Geschichten ist, und die sind auch ziemlich hässlich."
Zwei junge Frauen stehen vertraut und eng zusammen und halten eine Videokamera.
Blick zurück nach vorn: Sara F. und Sara K. verarbeiten ihre Erfahrungen mit dem Ausstieg in einem Film.© Felix Wellisch
"Ich bin sehr jung von zu Hause weg, mein Vater war sehr gewalttätig", erzählt Sara F.. "Ich bin die Älteste von neun Geschwistern, und ich habe mich als Mutter gefühlt, noch bevor ich überhaupt Kind sein konnte. Aber gleichzeitig habe ich mich auch gegen alles aufgelehnt und bin überall angeeckt."

Aus dem engen Zuhause in die Fremde

Der Weg raus aus der Familie sei schwer gewesen: "Sie haben uns nicht beigebracht, wie man ein normaler Mensch sein kann. Bis heute finde ich immer wieder kleine Dinge, die für alle anderen offensichtlich sind, nur wir haben keine Ahnung, nicht nur Religion, auch Sex zum Beispiel, weil dort niemals jemand darüber gesprochen hat."
Ihre Freundin hat ähnliche Erfahrungen gemacht: "Ich hatte eine lange Zeit gar keine Wohnung, bin von Haus zu Haus gezogen, von Typ zu Typ. Ich bin zu jedem, der bereit war, mir die Türe zu öffnen. Ob es für Sex war oder für was anderes."
Auch hier im Barata habe sie mal für eine Weile gelebt, sagt Sara K., "an jedem Ort, wo es etwas Wärme gab, ich dachte immer nur: Diese Nacht bin ich sicher. Es ist schwer, diese ganze Zeit zusammenzufassen. Es waren so viele Erfahrungen auf dem Weg von meinem sicheren engen Zuhause in die große Welt."
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