Ausspäh-Affäre

Orwell gruselt nicht mehr

Von Doris Anselm · 06.01.2014
Die Überwachung ist längst allumfassend. Doch mit Kafka, Huxley und Orwell hat sie wenig zu tun. Diese Fiktionen stoßen ab, aber rütteln niemanden auf. Warum das so ist, erklärt die Journalistin Doris Anselm.
Es ist zum Verrücktwerden: Die Leute wollen einfach nicht aufwachen. Da sind sie komplett ausgespäht worden, da übertrumpft jede neue Nachricht aus den Geheimdiensten an Brisanz die vorherige – und die Bürger tun mehrheitlich so, als wäre nichts.
Schriftsteller und Künstler haben protestiert. Warum aber dringen sie mit politischen Appellen nicht durch, wo sie doch meisterhaft Gefühle wachzurufen verstehen – auf der Leinwand oder der Bühne, in Ausstellungen oder Büchern?
Die Antwort lautet: Weil sie ganz andere Bilder im Kopf haben als ihr Publikum. Die "Aufrüttler" sind geprägt von der Literaturgeschichte: von Kafka, Huxley, Orwell – düster, gleichförmig und voller Zwang. Wer sich mit diesem Horror länger befasst hat, wer gar fasziniert ist von ihm, der sieht die digitale Überwachung wie durch eine erschreckend passende Folie.
Sicher: Manchmal scheinen sich düstere Vorhersagen zu erfüllen. Manchmal übertrifft die Realität gar jede Fantasie.
Die Verlockungen von Online-Shopping und süßen Kinderfotos
Viele aber, die sich durchs Internet bewegen, empfinden etwas Anderes. Sie leben gut und gerne in ihrer schönen neuen Welt voller Smartphones, Google und Facebook - und haben keine düstere Folie vor den Augen. Das Netz, das ihre Privatsphäre einfängt, unterscheidet sich vom Horror der Science-Fiction-Autoren: Es ist komfortabel.
Den fiktiven Bürgern des George Orwell wurden "Teleschirme" aufgezwungen, die sie belästigten, die sich nicht abschalten ließen und die keinerlei Unterhaltung oder Mehrwert boten – nicht einmal den Wetterbericht. Andere Autoren drangsalierten ihre Figuren mit stählernen Armbändern und öden Massen-Pflichtveranstaltungen oder schrieben sogar den Lesestoff vor.
Keiner von ihnen lockte mit Online-Shopping, dachte an süße Kinderfotos, die man per Handy mit den Lieben teilt oder bot Bewertungsportale, mit denen sich die leckerste Tapas-Bar in der neuen Stadt finden lässt. Keiner sprach davon, wie bequem es ist, eigene Daten nicht dauernd neu irgendwo eintragen zu müssen.
Nichts bindet Menschen so nachhaltig wie das Gefühl, sich einen Vorteil zu verschaffen. Das ist das Prinzip der Payback-Punkte: persönliche Daten gegen Rabatt. Vermutlich würden Viele auch für einen Rabatt in der Apotheke ihre Krankenakte offenlegen. Wir haben die Wahl – aber ärmere Menschen können kaum noch anders, als auch mit ihren Daten zu bezahlen.
Appelle von Schriftstellern bleiben erfolglos
Die Überwachung ist längst allumfassend. Doch mit Kafka, Huxley und Orwell hat sie wenig zu tun, genauso wenig wie mit den moderneren Varianten "Matrix" oder den "Tributen von Panem". Denn in all diesen Geschichten kommt der Durchschnittsbürger zu schlecht weg. So lebt bei uns niemand. Diese Fiktionen stoßen ab, unterhalten allenfalls, aber rütteln niemanden auf. Darum waren die offenen Briefe der Schriftsteller weitgehend erfolglos.
Nicht, dass die "neue" Überwachung weniger gefährlich wäre. Auch sie vernichtet mit der Privatsphäre jeglichen Boden für echten politischen Widerstand. Aber gerade durch seine Attraktivität könnte dieses System der Überwachung so stabil werden, wie es kein "Regime" zuvor je war.
Mit klassisch-gruseligen Horrorbildern lässt sich dagegen nicht angehen. Es zu versuchen, vermittelt lediglich ein Gefühl von Vergeblichkeit. Alles sei sowieso zu spät! Dabei lässt sich praktisch alles am und im Internet gestalten – sei es Datenschutz, Teilhabe oder demokratische Kontrolle.
Sicher: Das ist kleinteilig und kompliziert, aber sinnvoller, als die Orwell-Keule zu schwingen. Denn Nineteen-Eighty-Four – das war schon vor dreißig Jahren.
Doris Anselm, geboren 1981 in Buxtehude/Niedersachsen, ist Reporterin und Autorin, u.a. für Deutschlandradio Kultur und den Rundfunk Berlin-Brandenburg. Sie studierte Kulturwissenschaften und lebt in Berlin.
Doris Anselm
Doris Anselm© privat
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