Aussöhnung mit den europäischen Nachbarn als Antrieb

Richard von Weizsäcker im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 15.04.2010
Sein Hauptmotiv für politisches Handeln sei nach dem Krieg gewesen, "mit den ehemaligen Kriegsgegnern im Osten zu einer Verständigung zu kommen", sagt Richard von Weizsäcker. Der ehemalige Bundespräsident erinnert daran, dass der Grund für die lange Teilung Deutschlands die Taten der Deutschen während des Nationalsozialismus waren.
Britta Bürger: Marion Gräfin Dönhoff hat mal über Richard von Weizsäcker geschrieben, dass bei der synthetischen Herstellung eines idealen Bundespräsidenten kein anderer als Richard von Weizsäcker herauskommen würde. Heute feiert er seinen 90. Geburtstag, und auf den haben wir uns natürlich vorbereitet, bevor die Gratulanten Schlange stehen. Meine Kollegin Liane von Billerbeck hat von Weizsäcker in seinem Berliner Büro Am Kupfergraben besucht, in dem er noch immer täglich zur Arbeit erscheint. Zunächst hat sie ihn gefragt, welche Verantwortung ein Deutscher hatte, der wie er nach 1945 in die Politik einstieg.

Richard von Weizsäcker: Na ja, sehen Sie, ich bin also sieben Jahre lang in der Uniform gewesen, da gab es die Arbeitsdienstpflicht und die Wehrpflicht, und bin am ersten Kriegstag auch mit auf Befehl nach Polen einmarschiert, ohne irgendetwas zu wissen davon, was eigentlich der Anlass dafür gewesen ist. Und dann verlief der ganze Krieg, ich habe meinen eigenen Bruder beerdigt, wir sind in demselben Truppenteil gewesen und er ist da gefallen, schon am zweiten Kriegstag. Und so hat man alles, was dieser schreckliche Krieg mit sich gebracht hat, ja doch auch persönlich erlebt.

Und als der Krieg dann zu Ende war, da stellte sich doch eben sehr bald die Aufgabe für uns junge Leute – also ich war damals Mitte 20 oder zweite Hälfte 20 –, unseren bescheidenen kleinen Beitrag dazu zu liefern, dass wir mit unseren ehemaligen Kriegsgegnern auch wieder in Kontakt kommen. In diesem Zusammenhang war es mir gerade immer besonders wichtig, vor allem mit den Polen, mit dem ersten Opfer des Zweiten Weltkrieges, wieder in Kontakt zu kommen.

Meine Güte, die Polen hatten Ende des 18. Jahrhunderts ihre Souveränität verloren, und ein Teil war nach Russland, ein anderer nach Preußen und ein dritter nach Österreich gegangen. Und am Ende des Ersten Weltkrieges hatten sie zum ersten Mal ihre Souveränität wiederbekommen, und da waren kaum 20 Jahre vergangen, dann wurden sie das erste Opfer des Zweiten Weltkrieges.

Und in diesem Zusammenhang einen Beitrag zu leisten, um mit den ehemaligen Kriegsgegnern im Osten zu einer Verständigung zu kommen, das war für mich einer der beiden Hauptmotive, um alsbald nach dem Krieg sich auch politischen Fragen zuzuwenden.

Liane von Billerbeck: Sie haben als Bundespräsident viele Reden gehalten, die den Deutschen im Gedächtnis geblieben sind. Eine Rede ganz besonders, nämlich die berühmte Rede vom 8. Mai ...

von Weizsäcker: Ja, ja.

von Billerbeck: ... 1985.

von Weizsäcker: Die war mir auch sehr ernst!

von Billerbeck: Ja. Warum hat gerade diese Rede damals in der Bundesrepublik ein solches Aufsehen verursacht?

von Weizsäcker: Ach, sehen Sie mal, gleich am Anfang oder im Kern dieser Ansprache ging es darum, zu sagen, der Tag des Kriegsendes war ein Tag der Befreiung. Und selbstverständlich musste ich und habe mir auch wirklich Mühe gegeben, in der Richtung hinzufügen, für unendlich viele Menschen fing sozusagen das Leid erst richtig an. Normalerweise, wenn Sie die Geschichte lange zurückblicken, haben Kriege immer mit einem Friedensvertrag aufgehört. Warum durfte man denn hier nicht auf einen Friedensvertrag warten und dann mithilfe eines solchen Friedensvertrages, wer weiß, vielleicht in die alte Heimat wieder zurückkehren?

Aber warum ist es dazu nicht gekommen? Weil die beiden Großmächte auf der Siegerseite, nämlich die Vereinigten Staaten von Amerika und die Sowjetunion, kaum hatten sie gemeinsam den Zweiten Weltkrieg gewonnen, mit dem Kalten Krieg angefangen haben. Und dann ging es gegeneinander, und da war natürlich die Chance für einen Friedensvertrag verschwunden. Und nun durften nicht immer weiter Illusionen am Leben gehalten werden, dass man vielleicht eben doch mithilfe eines solchen Friedensvertrages noch mal die bösen persönlichen schmerzlichen Erlebnisse noch einmal verbessern oder überwinden kann.

Und dazu musste etwas gesagt werden im Zusammenhang mit der Anerkennung der wirklich großen Verbrechen, die sich mit dem Namen der Deutschen verbinden. Und das war notwendig, damit wir eben auch im Verhältnis zu dem ganzen übrigen Ausland in Europa und darüber hinaus auch wieder in Kontakt kommen.

von Billerbeck: Wenn Sie an die Umbruchzeit denken, 1989/90, an den Beginn des ersten gesamtdeutschen Staates, wie viel Fremdheit ist geblieben zwischen dem Deutschland Ost und dem Deutschland West?

von Weizsäcker: Das Wort Fremdheit ist mir eher fremd, wenn ich das sagen darf. Es hat doch auch schon in der Zeit der Teilung immer wieder ganz deutliche Zeichen dafür gegeben, dass wir uns wirklich zusammengehörig fühlen. Meinerseits bin ich während der ganzen Zeit der Teilung ungezählte Male in der DDR gewesen. Das war weniger die Folge meiner politischen Tätigkeit, sondern stärker davon, dass ich in dem sogenannten Evangelischen Kirchentag viel in der DDR gewesen bin und dort auch immer wieder verspürt habe, wie stark der Hang der Zusammengehörigkeit ist.

Aber die Unterschiede, die bei der Vereinigung zu lösen waren, menschlicher, beruflicher, wirtschaftlicher Art, sind natürlich gewaltig. Es fängt damit an, ja natürlich, die Bürger in der DDR wollten die Freiheit, in dem Moment aber, wo man die Freiheit hat, ist man dann auch selber verantwortlich dafür zu sehen, wie man sie für den eigenen Lebensweg gut gestalten kann.

In der DDR wurde sozusagen durch Anordnungen von oben dafür gesorgt, dass die kleinen Kinder alsbald in die Kindertagesstätten kamen und die Eltern beide berufstätig waren, und das hatte ja auch seine Vorteile natürlich. Aber man musste weniger selber für den weiteren Berufsweg sorgen, als das nun eben doch nun inzwischen eingetreten ist.

Oder wenn ich noch etwas anderes sagen darf: Nun ist also gerade der 18. März des Jahres 1990 gewesen, da ist zum ersten Mal eine Volkskammer frei gewählt worden.

von Billerbeck: Und zum letzten Mal.

von Weizsäcker: Und zum letzten Mal. Es folgte dann überdies eine sechsmonatige Zeit dieser Arbeit in der frei gewählten Volkskammer, die mich stets ganz außerordentlich beeindruckt hat. Das gehört zu den besten Kapiteln der deutschen Parlamentsgeschichte, wie damals eben nicht in erster Linie von einer Fraktion gegen die andere abgewettert und die Zusammenarbeit eher verweigert wurde, nein, sondern es wurden ganz außerordentlich schwierige Gesetze und politische Entscheidungen in der Zusammenarbeit geschlossen. Und es ging nicht in erster Linie darum, den anderen schlechtzumachen, sondern mit dem andere Wege der Zusammenarbeit zu finden.

Trotzdem, eines muss man doch sehen: Kaum war die Mauer aufgegangen, sind eben sehr bald sehr viele, vor allem sehr viele junge Leute nach Westen rübergegangen. Dort haben sie dann verhältnismäßig bald eine Beschäftigung gefunden. Außerdem, wer will es ihnen denn übelnehmen, dass sie nun auch die West-Mark, die D-Mark gerne haben wollten? Auf diese Weise gab es einen Exodus, einen zu großen Ausmarsch von Leuten, die doch auch gebraucht wurden. Dazu zählten dann aber auch noch Ärzte und alle möglichen anderen Leute. Also es war wirklich schwer, innerhalb der DDR für die Leute, die dort waren in der alten DDR, auch wirklich festen Boden unter die Füße zu kriegen.

Und vom Westen her musste natürlich mit den Solidaritätsmitteln kräftig geholfen werden. Manche Leute im Westen haben darüber ein bisschen viel gemaunzt und geraunzt.

Zunächst einmal: Wir haben den Krieg ausgelöst. Die Folge des von uns verschuldeten Zweiten Weltkrieges war, dass schließlich Europa und Deutschland und Berlin geteilt wurde. Wenn nun große Leistungen von uns gefordert werden, um über die Schäden hinwegzukommen, dann wollen wir doch froh und dankbar sein, dass diese Mittel dann in Deutschland geblieben sind und nicht etwa bei den Gegnern während des Krieges gelandet sind.

Nein, nein, man hätte damals nicht nur aus Staatskassen Solidaritätsmittel überweisen können, man hätte sehr wohl auch die westdeutsche Bevölkerung um ihren Beitrag dazu bitten können. Wir haben das in Westdeutschland ja früher schon einmal erlebt, als Millionen von Heimatvertriebenen gekommen sind. Da wurden auch die Privatpersonen aufgefordert, sich zu beteiligen, um denen, die ihre Heimat verloren haben, die Möglichkeit einer neuen Verwurzelung, allen Schmerzen des Heimatverlustes zum Trotz, wieder Fuß zu fassen. Und dazu wäre auch eine Bereitschaft vorhanden gewesen, aber sie wurde nicht abgerufen.

von Billerbeck: Sie haben ja in Ihrer Rede beim Staatsakt am 3. Oktober 1990 von der "Empfindungsunion" gesprochen, die könne man nicht nur mittels harter Währung erreichen. Was ist denn aus dieser geworden?

von Weizsäcker: Ach, wissen Sie, ich will das nicht verallgemeinern, aber ich bin nun sowohl während der Zeit der Teilung wirklich sehr viel in der DDR gewesen, und solange ich hier mal Bürgermeister in Westberlin war, bin ich auch in Ostberlin gewesen, und zunächst müssen wir uns – das habe ich, glaube ich, bei demselben Anlass auch gesagt – ja auch in unserer Geschichte vereinen. Der Ausgangspunkt der Teilung war ja nicht das Ende des Zweiten Weltkrieges, sondern der Ausgangspunkt war letzten Endes der 30. Januar des Jahres 1933. Gemeinsam haben wir die Folgen des Nationalsozialismus mit seiner schrecklichen Wirkung im Bezug auf Angriff und dem Holocaust zu überwinden.

Also die Empfindung bezieht sich zunächst natürlich auf das, was man Tag für Tag erlebt, und da sind eben immer noch große Unterschiede, und die sind nicht ganz leicht zu überwinden. Aber dass man eben doch letzten Endes auch von der Geschichte her zusammenwachsen muss und dass das eine wirkliche Hilfe ist, das hat im Lauf der letzten 20 Jahre große Fortschritte gemacht.

von Billerbeck: Es ist ja heute so, Herr von Weizsäcker, dass alle zwar gerne alt werden wollen, aber niemand alt sein will. Man spricht dann immer sehr verklemmt von der Generation 50 plus, der gehöre ich nun auch schon an, und meint eigentlich viele Ältere. Wenn jemand wie Sie 90 wird, dann darf man wohl schon von Alter sprechen. Wie gehen Sie denn mit dem Alter um und was macht Ihnen am meisten Spaß?

von Weizsäcker: Ich gebe zu, dass das sehr alt ist, aber trotzdem muss ich meine Erfahrungen erst noch sammeln. Da fragen Sie mich noch – ist vielleicht ein bisschen anmaßend, wenn ich das sage – noch ein bisschen zu früh. Aber eins ist klar: Ich mache keine Bergtouren mehr. Und früher habe ich immer das Sportabzeichen gemacht, damit habe ich im Alter von 85 auch aufgehört.

Bürger: Alt-Bundespräsident Richard von Weizsäcker im Gespräch mit Liane von Billerbeck. Heute feiert von Weizsäcker seinen 90. Geburtstag – ein Anlass, zu dem auch eine ganze Reihe von Büchern erschienen ist. Zwei Biografien stellen wir Ihnen heute Nachmittag im "Radiofeuilleton" vor, um kurz nach halb drei.
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