Aussetzung der Wehrpflicht

Wo steht die Bundeswehr heute?

16:57 Minuten
Freiherr-vom-Stein Kaserne, Feierliches Gelöbnis von Rekruten des 6. Nachschubbataillons 462.
Bis 2011 wurden jährlich Zehntausende Rekruten zur Bundeswehr eingezogen. Wer dann kommen würde, war zunächst erst mal unklar. © imago/Rüdiger Wölk
Von Silke Hasselmann · 10.02.2020
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Vor fast zehn Jahren begann die Debatte zur Aussetzung der Wehrpflicht. Die Hauptfrage war damals: Würden sich fortan überhaupt genügend geeignete Freiwillige finden? Eine Bilanz aus Mecklenburg-Vorpommern.
Ende Januar, Ernst-Moritz-Arndt-Kaserne in Hagenow: Auf dem Appellplatz legen 312 neue Rekruten des Panzergrenadierbataillons 401 ihr feierliches Gelöbnis ab – ganz so, wie es Jens Pommerehnke vor elf Jahren an gleicher Stelle getan hat. Allerdings war er noch als Wehrpflichtiger zum Militärdienst gezogen worden. Heute trägt der mittlerweile 28-Jährige den Dienstgrad eines Hauptfeldwebels und bildet seinerseits Rekruten aus – allesamt freiwillig bei der Bundeswehr.

Dass der deutschen Armee die Leute ausgehen, weil der Staat ihr keine Wehrpflichtigen mehr zuweist, könne er nicht bestätigen, sagt Jens Pommerehnke. Die Gesamtstärke von 1000 bis 1200 Soldaten, Sanitätern und Versorgern habe der Heeres-Standort Hagenow über all die Jahre beibehalten. Doch deutlich anders als noch zu Wehrpflichtzeiten empfindet es Ausbilder Pommerehnke:
"Dass die Soldaten viel engagierter sind heutzutage. Damals wurden alle eingezogen bzw. die Masse eingezogen und da waren auch Soldaten dabei, bei denen es nicht der Wunsch war, zur Bundeswehr zu kommen. Sie mussten das hier abdienen, so dass dann auch die Lust nicht so da war. Und heutzutage ist es so: Alle, die herkommen, wollen auch zur Bundeswehr. Die sind wissbegieriger. Die sind aufnahmefähiger. Die wollen halt auch."

Disziplin, Kameradschaft und der Dienst an der Waffe

Jerell Palmore zum Beispiel merkte während seiner Mechatroniker-Lehre, dass das nichts für ihn ist. Er sprach irgendwann auch in einem der bundesweit 16 Karrierecenter der Bundeswehr vor. Das vermittelte Truppenpraktikum gefiel dem Berliner so gut, dass er sich zu zwölf Monaten Wehrdienst in Hagenow bei den Panzergrenadieren verpflichtete. Vorigen März rückte er als FWDLer ein, also als "Freiwillig Wehrdienst Leistender". Was der 22-Jährige bislang gelernt hat?
"Ja natürlich zunächst die soldatischen Grundkenntnisse, das Auftreten, die Disziplin natürlich, was an allererster Stelle steht. Die Kameradschaft natürlich, die ist sehr, sehr wichtig. Natürlich auch ganz viel Sport, sich fithalten. Und natürlich unser Kerngeschäft als Panzergrenadiere: der Umgang mit Waffen."
Der großgewachsene, durchtrainierte Obergefreite fand das weitverbreitete Vorurteil nicht bestätigt, dass seit dem Aussetzen der Wehrpflicht für alle jungen, diensttauglichen Männer fast nur noch Leute aus schwachen sozialen Verhältnissen und mit eher niedriger Bildung zur Bundeswehr finden. Im Gegenteil, so Jerell Palmore: In Hagenow habe er Umgang mit so viele unterschiedlichen Menschen aus Stadt und Land wie nie zuvor.
"Also die Bundeswehr – ich bin noch nicht mal seit einem Jahr hier und weiß doch schon, dass das genau mein Job ist. Bei mir läuft gerade der Antrag, dass ich für vier Jahre auf jeden Fall noch mal verlängere. Der Aspekt des Geldes ist natürlich auch keine kleine Sache. Da muss man natürlich auch drauf schauen. Was mich auch mit dazu bewegt hat, ist, dem Land zu dienen. Ich finde, Deutschland ist ein sehr großartiges Land, und mit meinem Dienst hier kann ich dem Land einfach was zurückgeben. Auch mit dem Hintergrund, dass es in einen Auslandseinsatz gehen könnte und auch wahrscheinlichen gehen wird. Weil: Das gehört dazu. Das wusste ich auch von Anfang an."


Es spricht viel dafür, dass Jerell Palmore bei dem nächsten, für Juni geplanten Afghanistan-Einsatz der Hagenower Panzergrenadiere noch nicht berücksichtigt wird. Denn noch etwas hat sich seit dem Aussetzen der Wehrpflicht geändert. Brigadegeneral Frank Reiland vom Kölner Bundeswehramt für Personalmanagement erklärt:
"Eine Freiwilligen- und Berufsarmee kann durch viel länger laufende Verpflichtungszeiten sich auch mehr Zeit nehmen, bevor wir die Soldatinnen und Soldaten in irgendwelche Einsatzgebiete bringen. Zum Beispiel werden unsere Feldwebel – also die Fachkräfte – über fünf, sechs Jahre ausgebildet, bevor sie mit ihren Einsatzverbänden überhaupt ein erstes Mal in den Einsatz gehen. Damit haben wir natürlich jetzt eine viel professionellere Armee und viel professionellere Soldatinnen und Soldaten, als wir das zur Zeit einer Wehrpflichtarmee hatten."
Hauptfeldwebel Jens Pommerehnke (l), Obergefreite Jerell Palmore und Stabsfeldwebel Stephan Braasch am Bundeswehrstandort in Hagenow. Drei Männer in Uniform stehen vor einem Gebäude.
Hauptfeldwebel Jens Pommerehnke (l), Obergefreite Jerell Palmore und Stabsfeldwebel Stephan Braasch am Bundeswehrstandort in Hagenow.© Silke Hasselmann

Bundeswehr musste sich selbst um Nachwuchs kümmern

Frank Reiland ist seit fast 20 Jahren zuständig für die Gewinnung von militärischem wie zivilem Personal. Dass sich die Bundeswehr ab 2011 selbst um ihren Nachwuchs kümmern musste, statt verlässlich Zigtausende junge Männer pro Jahr vom Staat zugewiesen zu bekommen, war gewöhnungsbedürftig, erinnert sich der Brigadegeneral.
Nie zuvor mussten sich die Rekrutierer Gedanken darüber machen, was wohl die jungen Leute von der Bundeswehr als Arbeitgeber erwarten. Doch das habe sich längst geändert. Zumal in Zeiten harter Konkurrenz um die geburtenschwachen Jahrgänge rühmt sich die Bundeswehr damit, noch für nahezu jeden Interessenten eine Verwendung in einem von 3500 Berufsbildern finden zu können – egal wie alt und gebildet. Wirklich alles bestens also?
Frank Reiland räumt ein, dass es in einigen Laufbahnen unbesetzte Stellen gebe und dass in den Fernmeldezügen und im IT-Bereich Leute fehlen. Doch von einer "Personalnot" könne keine Rede sein. Und das, obwohl die Politik der Bundeswehr ab 2017 eine "Trendwende Personal" verordnet hat, mit der sie nach jahrelangem Schrumpfen personell wieder wachsen soll.
"Ihr Zielzustand sieht vor, dass wir bis 2025 über 203.000 Soldatinnen und Soldaten verfügen wollen. Und ich kann vermelden, dass uns tatsächlich diese Wachstumsrate jährlich gelingt. Wir waren 2019 sogar ein bisschen zu schnell: Wir waren 500 über dem Bedarf, den wir uns für das Jahr gegeben haben. Und ganz, ganz spannend ist in einer modernen Freiwilligenarmee natürlich auch, dass wir mittlerweile 22.500 Soldatinnen haben und somit tatsächlich ein buntes Bild abgeben. So bunt, wie unsere Gesellschaft selbst ist."


Zurück in der Ernst-Moritz-Arndt-Kaserne Hagenow, wo das Panzergrenadierbataillon 401 beheimatet ist. Stephan Braasch ist Unteroffizier im 32. Dienstjahr. Er lernte die Bundeswehr noch im Kalten Krieg kennen und erlebte viele Reformen und drei Auslandseinsätze mit. Die Bundeswehr werde als eine Freiwilligen- und Berufsarmee schlanker und zugleich schlagkräftiger sein – so ein Versprechen vor der Aussetzung der Wehrpflicht. Stephan Braasch findet, das sei eingetroffen.
"Durch die vielen Einsätze, die wir haben, habe ich natürlich auch Soldaten viel länger verfügbar, die fertig ausgebildet sind. Ich habe nicht mehr so viel Bedarf an ´frischen` Soldaten – so nenne ich´s jetzt einfach mal – , weil ich fertig ausgebildete habe und auch einsatzerfahrene Soldaten, die das zweite oder dritte Mal mit im Einsatz sind. Das erleichtert natürlich viel, gerade hier in so einem Kampfbataillon. Man kennt sich dann schon besser. Hat viel miteinander erlebt. Und das ist eben das Positive daran, dass man eine Berufsarmee ist."
Heeresstandort Hagenow in Mecklenburg-Vorpommern. Blick auf eine Kaserneneinfahrt.
Die Ernst-Moritz-Arndt-Kaserne in Mecklenburg-Vorpommern.© Von Silke Hasselmann

Manche Befürchtungen haben sich bewahrheitet

Spricht also etwas dafür, die Wehrpflicht wieder einzuführen?
"Grundsätzlich: So wie es jetzt hier in Hagenow läuft, würde ich sagen, benötigen wir keine Wehrpflicht. Der einzige Unterschied ist – ich habe die Wehrpflicht ja viele, viele Jahre kennengelernt – , dass die Gesellschaft eben nicht mehr so teilnimmt an der Bundeswehr."
Damit habe sich die warnende Prophezeiung bewahrheitet, dass die breite Öffentlichkeit das Interesse an Verteidigungs- und Rüstungspolitik ebenso verlieren würde wie an dem Wohl und Wehe der Soldaten. Mit der Wehrpflicht hatten einfach viel mehr Familien zumindest zeitweise einen direkten Bezug zur Bundeswehr, so Stabsfeldwebel Braasch:
"Das sind wir natürlich heute nicht mehr ganz so, weil wir jetzt Freiwillige haben."
Auch Hauptfeldwebel Jens Pommerehnke fällt ein großer Unterschied auf, wenn er die letzten zehn Dienstjahre betrachtet. Der Aufwand, mit dem die Bundeswehr ihre jungen Rekruten auf einen soliden körperlichen Fitnesszustand bringen muss, habe sich extrem erhöht. Doch das habe nichts der fehlenden Wehrpflicht zu tun, sondern mit dem Leben im digitalen Zeitalter.
"Durch die ´Generation Computer` ist es halt so, dass das Draußensein, der Sport, das körperliche Betätigen nicht mehr so im Vordergrund stehen. Das muss man denen dann hier – vor allem, wenn man in der kämpfenden Truppe ist – wieder beibringen. Aber es ist nur eine Frage des Beibringens, mehr nicht."
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