Auslaufmodell Volksparteien?

Von Alexander Gauland |
Ein kluger Beobachter der CDU hat kürzlich darauf hingewiesen, dass die Zoologie keinen Vogel kenne, der mit drei Flügeln Höhe gewinnt. Doch was die Natur uns bis jetzt verweigert, war jahrelang ein politisches Erfolgsmodell, die mit mehreren Flügeln zum Wahlerfolg sich emporschwingende Volkspartei.
Entgegen anders lautenden Behauptungen ist sie auch keine Erfindung der alten Bundesrepublik, sondern eine deutsche Besonderheit aus kaiserlicher Zeit. Als Bismarck 1870/71 sein protestantisches preußisches Kaisertum schuf, gerieten katholischer Glaube und Tradition in die Defensive, aus der sie erst das Zentrum, eine Vereinigung rechter wie linker Katholiken, wieder herausführte. Dass in Deutschland überhaupt kontinuierlich regiert werden konnte, verdanken kaiserliche wie republikanische Regierungen jener ersten Volkspartei, der so gegensätzliche Persönlichkeiten wie Bismarcks Gegenspieler Ludwig Windhorst und der Steigbügelhalter Hitlers Franz von Papen angehörten. Trotz der eher zweifelhaften Rolle, die die Zentrumspolitiker Kaas und Papen in der Schlussphase der Weimarer Republik gespielt hatten, knüpften Adenauer und seine Freunde eben dort wieder an, nur dass jetzt der Charakter der Volkspartei das evangelische Element einschloss. Zu wenige hatten Hitlers Machtergreifung Widerstand entgegengesetzt und zu wenig blieb vom bürgerlichen Erbe unversengt, um die neue Republik noch einmal mit Interessen- und Klientelparteien zu beginnen.

Und so war die CDU von Anfang an vieles: die Hüterin der christlichen Soziallehre wie der Ort derjenigen, die mit der Marktwirtschaft das Elend zu beseitigen hofften, aber auch die Heimat vieler, die trotz der Verbrechen Hitlers und seiner Schergen an die deutsche Nation glaubten. So entstand eben jene zoologisch inkorrekte Dreiflügligkeit aus konservativen, liberalen und sozialen Schwingen, die bis heute das Erfolgsgeheimnis der CDU ist. Nun gibt es manche, die den Vogel Volkspartei als gut und richtig für die Nachkriegszeit und die alte Bundesrepublik akzeptieren, nach dem Ende des Kommunismus aber wieder zur Politik aus einem Guss, also ohne flügelschlagende Korrekturen zurückkehren möchten. Es sind meist dieselben, denen es mit den Reformen nicht schnell genug gehen kann und die gern davon sprechen, dass die große Koalition aus zweieinhalb sozialdemokratischen Parteien besteht, der SPD, der CSU und der halben, eben sozialen nordrhein-westfälischen CDU. Was diese Kritiker der Volksparteien aus dem Unternehmer- und Unternehmensberatermilieu gern übersehen, ist die Tatsache, dass in der Demokratie Mehrheiten gesucht werden müssen und eine stringente neoliberale Reformpolitik wie sie in Leipzig angedacht war, kaum eine Chance hat, in Wahlen auch honoriert zu werden. Was in der alten Bundesrepublik die sozialistisch-kommunistische Alternative war, ist heute die globale Herausforderung. In beiden Fällen reicht es nicht, nur das so genannte Bürgertum hinter sich zu wissen, sondern die Größe der Aufgabe macht die schichtenübergreifende politische Integration notwendig. Es ist eben in der Wahrnehmung der Betroffenen etwas anderes, ob Graf Lambsdorff oder Guido Westerwelle davon sprechen, dass eine Sache im Interesse des Gemeinwohls absolut notwendig sei, oder ob Norbert Blüm, Franz Müntefering und Jürgen Rüttgers den Menschen etwas zumuten. Oder anders herum: Wenn ein gestandener Sozialdemokrat liberale Reformen für unabdingbar hält, mag er zwar auf Widerstand stoßen, seine Glaubwürdigkeit ist aber allemal größer, als die von Politikern, die schon immer für Individualisierung, Flexibilisierung und höhere Leistungsanforderungen eingetreten sind. Von der inneren Notwendigkeit her sind Volksparteien heut so wichtig wie in den Gründungsjahren der Republik, fraglich ist nur, ob die gesellschaftliche Geduld noch groß genug für sie ist.

Aus dem Untergang von Weimar, der Katastrophe des Dritten Reiches und der Bedrohung durch den Kommunismus hatten die bürgerlichen Kräfte, die die CDU trugen, den richtigen Schluss gezogen, dass das Zerstörungspotential einer Marktwirtschaft nur ordnungspolitisch und sozial eingebettet und immateriellen Werten verpflichtet, gebändigt werden kann. Diese den Volksparteien zugrunde liegende Überzeugung ist durch die gesellschaftliche Entwicklung systematisch ausgehöhlt worden und seit der Globalisierung extrem einsturzgefährdet. Letztlich sind den wirtschaftlichen Modernisierern Wertefragen herzlich gleichgültig, weil sie die Werte nicht mehr als eine Kraft gegen die Bedrohungen des Kommunismus benötigen. Im Gegenteil, je ungebundener durch Werte der moderne Konsument ist, desto erfolgreicher ist er als Wirtschaftsbürger. Deshalb benötigen die Leistungseliten auch nicht mehr das konservative Tafelsilber Familie, Heimat, Vaterland und Kirche, ökonomisch Muster ohne Wert. Wo aber die fehlende Angst vor einer alternativen Wirtschaftsordnung weder soziale Zugeständnisse noch ein Bündnis mit den traditionellen Werten erforderlich macht, lässt auch die Bindungskraft der Volksparteien nach. Es ist schon so wie es Ernst-Wolfgang Böckenförde einmal ausgedrückt hat, unsere Ordnung lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht reproduzieren kann. Die Volksparteien stabilisieren zwar unsere Ordnung, doch wie lange die Menschen noch Geduld mit ihnen haben, steht in den Sternen.

Dr. Alexander Gauland, geboren 1941 in Chemnitz, lebt als Publizist und Buchautor in Potsdam. Mehrere Jahre lang war er Herausgeber der Märkischen Allgemeinen Zeitung. Von 1987 bis 1991 war er Staatssekretär und Chef der hessischen Staatskanzlei. Anfang der 70er Jahre hatte Gauland im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung gearbeitet. Als Publizist hat er zahlreiche Artikel und Beiträge zu gesellschaftspolitischen Fragen, zur Wertediskussion und des nationalen Selbstverständnisses veröffentlicht. Letzte Buchveröffentlichung: ‚Anleitung zum Konservativsein’.