Ausgleich in einer ungleichen Gesellschaft

13.04.2009
Anstand ist mehr als höfliche Tischmanieren, sondern bildet die Grundlage für Vertrauen. Zwar wurde Anstand zu allen Zeiten anders verstanden und ist damit wandelbar, aber eine Gesellschaft ohne bestimmte Regeln und Sitten, also einer Idee von Anstand, gibt es nicht, wie Karl-Heinz Göttert in seiner kleinen Kulturgeschichte zeigt.
Seit der Vorsitzende der Deutschen Bank, Hilmar Kopper, den 50 000-Millionen-Mark-Schaden, den die Schneider-Pleite vielen Handwerkern zufügte, als "Peanuts" bezeichnete, seit Josef Ackermann als Angeklagter des Mannesmann-Prozesses dreist grinsend mit dem Victory-Zeichen auftrat, war der gute Ruf dahin: Banker galten seither als arrogant, schamlos und unanständig. Erst recht, seit wir mitten in der Weltwirtschaftskrise angekommen sind.

Mit einem Schlag hat ein Begriff wieder Konjunktur, den man schon längst zum alten Eisen gelegt hatte. Dass sich Anstand nicht darauf beschränkt, das Messer richtig zu halten und die Suppe nicht zu schlürfen, dürfte jetzt jedem einleuchten. Denn Anstand ist die Grundlage für Vertrauen. Und nur wenn man Vertrauen hat, kann eine Wirtschaft funktionieren. Mit anderen Worten: Anstand liegt jenseits der Tischmanieren, auch wenn es nicht schadet, sich darin auszukennen.

Das zeigt das Buch von Karl-Heinz Göttert, und deswegen kommt es zur rechten Zeit. Es ist eine Geschichte des europäischen Nachdenkens über die Formen von Anstand und Höflichkeit im Wandel der Zeiten. Im Gegensatz zum Recht vor allem, aber auch der Moral, so seine These, ist der Anstand zwar nicht verallgemeinerbar, weil er hier und dort anders verstanden und ausgeübt wurde, aber es gibt keine Gesellschaft, zu welcher Zeit auch immer, die ohne ihn auskam. Das einzig Universalisierbare ist, dass Verhalten im zwischenmenschlichen Verkehr sich an bestimmten Regeln bzw. Sitten orientiert, also nicht willkürlich oder spontan erfolgt.

Für den Autor von Werken über Konversationstheorie und Festkultur sowie von Kriminalromanen hat der Anstand mit der existentiellen Frage von Gesellschaften zu tun, wie Gewalt zu vermeiden, wie das Humane zu retten sei. Seine Wurzeln erkennt er im Mitleid, in der Kooperation und der Fähigkeit zum Rollentausch.

Von den Philosophen der klassischen Antike wie Platon und Aristoteles bis zum äthiopischen Prinzen Asfa-Wossen Asserate reicht der chronologisch angelegte Bogen. Während Cicero die "Schicklichkeit" vor allem als Rücksichtnahme und Takt definiert, als den Verzicht auf Kränkung, nimmt Montaigne diese mehr oder minder in Kauf, wenn es darum geht, der Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen.

Göttert weist schlüssig nach, wie sich der Anstand um 1800 aus der Philosophie verabschiedete, um in die Einzelwissenschaften auszuwandern, in die Psychologie und Soziologie. Indem der verhaltensorientierte Wert den Raum normativer Betrachtungen verließ, wurde er zum Gegenstand empirisch-analytischer Untersuchungen, aber auch einer leichter fasslichen Ratgeberliteratur wie der von Erica Pappritz "Buch der Etikette" oder Gräfin Sybil Schönfeldts Brevier über Benimm- und Umgangsformen.

Dass Karl-Heinz Göttert als Germanistikprofessor tätig ist, merkt man an seinen genauen Textinterpretationen. Doch er sieht auch über den Tellerrand seiner Disziplin hinaus. So kommentiert er die Textbeispiele der 40 Autoren nicht nur im Zusammenhang von deren Denken und Werk, sondern er beleuchtet sie auch im Kontext des kulturellen Horizonts ihrer Zeit. Indem er anregend durch eine 2000-jährige Kulturgeschichte führt, stellt er immer wieder Vergleiche zwischen den einzelnen Epochen an, so dass sich unter der Hand eine bemerkenswerte Einsicht herausmendelt.

Trotz der Behauptung von der steten Wandelbarkeit des Begriffs wird klar: Anstand und Manieren gehören zu einer Gesellschaft, die auf Ungleichheit beruht. Sie haben also etwas mit Ausgleich zu tun. So ist das Buch nicht nur für den interessierten Laien ein Gewinn, sondern es wäre allen Bankern anzuempfehlen, während sie über die Anlage ihrer Boni nachdenken.

Rezensiert von Edelgard Abenstein

Karl-Heinz Göttert: Zeiten und Sitten. Eine Geschichte des Anstands
Reclam-Verlag, Stuttgart 2009
288 Seiten, EUR 19,90