Ausbildung statt Bildung

27.11.2006
Schon wieder vergessen sind die Industriegesellschaft und die Dienstleistungsgesellschaft. Das aktuelle Label heißt Wissensgesellschaft. In ihr wird lebenslang gelernt, die Tätigkeiten sind "wissensbasiert", es gibt ein "Wissensmanagement", und im Mittelpunkt steht die Verfügbarkeit des Wissens.
Alles ideologisches Blendwerk, meint Konrad Paul Liessmann. Die Wissensgesellschaft sei, so schreibt der Wiener Philosoph in der "Theorie der Unbildung", eine "Desinformationsgesellschaft" und auf dem Weg zur "Kontrollgesellschaft".

Liessmann warnt davor, die Institutionen und die Formen der Wissensproduktion weiter so rapide zu industrialisieren und zu ökonomisieren. Er will den Eigensinn der nicht anwendungsorientierten, geisteswissenschaftlichen Fächer bewahren. Die Reformen von Schulen und Universitäten mit Hilfe von Pisa, Evaluation und gesamteuropäischer Angleichung der Studiengänge demolierten nur. Auf die Reform folge bald die Reform der Reform, was enorme Kräfte binde. Aufgegeben werde Wilhelm von Humboldts Bildungsbegriff, von dessen "Theorie der Bildung des Menschen" sich Liessmann hat inspirieren lassen.

"Wissen", schreibt er, "existiert dort, wo etwas erklärt oder verstanden werden kann. Wissen referiert auf Erkenntnis, die Frage nach der Wahrheit ist die Grundvoraussetzung für das Wissen."

Doch heute muss Wissen nützlich und verwertbar sein, weshalb es fragmentiert und quantifiziert wird: Universitäten streben nach Wissenszuwächsen von 13,5 Prozent. In Theodor W. Adornos "Theorie der Halbbildung" sei, so Liessmann, die Bildung noch präsent, wenn auch nur als Leerstelle. Sie fehle in der Gegenwart völlig, es herrsche Unbildung. Damit ist kein intellektuelles Defizit oder ein Mangel an Informiertheit gemeint, sondern der Verzicht aufs Verstehenwollen.

Die Unterwerfung der letzten "gesellschaftlichen Refugien" durch die Ökonomie belegt Liessmann mit vielen sprechenden Beispielen. Die Europäische Hochschulreform etwa erreiche mit der Vereinheitlichung und Normierung von Studiengängen das vorgebliche Ziel größerer Mobilität der Studenten schon deswegen nicht, weil die verkürzten Bachelor-Studiengänge zum Schnelldurchlauf zwängen. Diese böten Ausbildung, nicht Bildung, sie bedrohten die Einheit von Lehre und Forschung und ließen eine Zweiklassenuniversität entstehen. Denn jeder Professor werde nicht die Masse, sondern die wenigen intellektuell herausfordernden Doktoranden unterrichten wollen. Zugleich drohten sich an den entstehenden Elite- oder Excellence-Universitäten exklusive und die Öffentlichkeit der Wissenschaft untergrabende Gemeinschaften zu etablieren.

Das Prinzip sei immer das gleiche: Öffentliche Institutionen würden zerschlagen, und das entstehende Chaos bewältigten private Sicherheitsgesellschaften, Evaluierer, Unternehmensberater gegen Bares. "Die Reformideologie (…) stellt Leo Trotzkis Phantasma der permanenten Revolution als neoliberale Karikatur dar."

Solch harsche Kritik am herrschenden Neoliberalismus steht neben feinsinnigen Beschwörungen des Humboldtschen Bildungsbegriffs, denn Liessmann hat sich leider nicht entscheiden können, ob er eine Streitschrift oder einen Essay schreiben wollte. Zudem enthält schon das Vorwort die Argumentation, weshalb sich danach der Eindruck der Wiederholung einstellt. Dem Buch fehlt eine Dramaturgie der Steigerung, es schlingert: Voller Unbehagen an und in der Wissensgesellschaft schreibt Liessmann mal scharf, mal sarkastisch, mal eifert er mit schönen Paradoxa Adorno nach, mal droht er sich in Belegen zu verlieren.

Zweifel weckt Liessmanns Hinweis auf Immanuel Kant, der nach seiner späten Berufung zehn Jahre lang nichts publiziert habe und sich nach heutigen Maßstäben wegen mangelnden Fleißes vor der Evaluierungskommission zu verantworten gehabt hätte – dabei sei in dieser Zeit die "Kritik der reinen Vernunft" in seinem Kopf entstanden! Da fallen einem gleich zahlreiche Universitätslehrer ein, deren Zurückhaltung glücklicherweise noch Großartiges erwarten lässt. Und so richtig Liessmanns Aversion gegen die fortwährenden und rigorosen Eingriffe ist – seinen Glauben an die Fähigkeit der Wissenschaft zur Selbstorganisation muss man nicht teilen. Die Forderung nach ihrer Autonomie hatte zu Humboldts Zeiten handfeste Gründe. Etwas Historisierung hätte der "Theorie der Unbildung" gut getan. So fügen sich die zahlreichen nachvollziehbaren Einzelbeobachtungen nicht zu einem überzeugenden Plädoyer.

Rezensiert von Jörg Plath

Konrad Paul Liessmann: Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2006
176 Seiten, 17,90 Euro