Ausbildung in Zeiten von Corona

Pflege Top, Gastro Flop?

06:27 Minuten
Füße in Turnschuhen stehen vor einer Markierung auf dem Asphalt: ein Fragezeichen und zwei Pfeile in entgegengesetzte Richtungen.
Nach dem Schulabschluss: Eine wichtige Zeit der Entscheidung findet dieses Jahr unter besonderen Bedingungen statt. © picture alliance / Zoonar / Axel Bueckert
Von Melehat Simsek · 01.09.2020
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Schule, Arbeit, Zukunft, Träume: Die Pandemie wirbelt gerade Pläne durcheinander, Schulabgängerinnen und Schulabgänger bangen um sicher geglaubte Azubiplätze. Fest steht: Corona hat erhebliche Auswirkungen auf den Ausbildungsmarkt.
"Ich habe neun Bewerbungen als Pflegefachkraft rausgeschickt", sagt Carlo Darmer. "Dann habe ich zwei Bewerbungen an die Bundeswehr rausgeschickt und dann habe ich noch eine Bewerbung nach Helgoland als Haustechniker."
Carlo Darmer, 18 Jahre alt, 1,90 groß, schlank, blond, sitzt mit seinem Handy am Küchentisch im Kölner Süden und checkt seine Mails.
"Ich habe heute eine E-Mail bekommen", erzählt er. "Da geht es darum, dass aufgrund von Covid-19 kein Vorstellungsgespräch vor Ort stattfinden kann. Deshalb laden die mich zu einem Online-Vorstellungsgespräch per Webcam ein. Das soll genau zu der Zeit stattfinden, zu der das Original-Vorstellungsgespräch auch stattgefunden hätte."

Pflegeberufe als sichere Bank

Carlo hat im Sommer seinen Realschulabschluss geschafft und nun ist der 18-Jährige auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz.
"Ich habe mich auch bei der Uni-Klinik Köln beworben und bei den Cellitinnen", sagt er. "Das ist so ein Verband aus mehreren Seniorenhäusern und Krankenhäusern. Da habe ich mich auch beworben als Pflegefachkraft und das fand ich auch ziemlich ansprechend, weil es ein sicherer Job ist. Da habe ich auch Vorstellungsgespräche."
Carlo bewirbt sich jetzt seit sechs Monaten und hat das Gefühl, in der Bewerbungsphase festzustecken. Unterstützung bei der Berufsorientierung habe ihm gefehlt. Die Schulen waren dicht, Jobmessen ausgefallen, Praktika in Betrieben oder Speed-Datings von Bewerbern und Unternehmen gab es nicht.
Carlo hat sich im Internet umgeschaut: "Ich habe einfach überlegt, wo man in der Zukunft gut Geld verdienen könnte und was mich auch interessiert. Da bin ich als Erstes auf den Beruf der Pflegefachkraft gestoßen, auch aufgrund von Corona. Dann bin ich später auf die Bundeswehr gestoßen, weil die auch einen YouTube-Kanal hat, wo die so was aufklären."

Kündigungen in der Gastronomie

Wie stehen seine Chancen auf einen Ausbildungsplatz zur Pflegefachkraft? Bald wird er ein Vorstellungsgespräch haben. Und Pflegekräfte werden ja eigentlich dringend gesucht!
Anders in den besonders von Corona gebeutelten Branchen wie der Gastronomie, oder auch der Reise- und Hotelbranche. Hier gibt es derzeit kaum Ausbildungsmöglichkeiten.
Sebastian Riesner von der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten: "Da ist eine hohe Verunsicherung da, hohe Angst davor, dass die Ausbildung überhaupt fortgesetzt werden kann, teilweise auch mit Drohung aus den Betrieben, dass die Ausbildungsverhältnisse gekündigt werden müssen. Und da kriegen wir von Woche zu Woche mehr Anfragen in dieser Richtung."

Bundesarbeitsminister will helfen

Die Unternehmen kämpfen um ihre Existenz und zögern, neue Azubis unter Vertrag zu nehmen. Die Bundesregierung hat einen Rettungsschirm für den Nachwuchs von bis zu 3000 Euro pro Auszubildenden für kleine und mittlere Unternehmen mit weniger als 250 Mitarbeitern beschlossen.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil appelliert an die Betriebe: "Wir müssen alles tun, um einen Corona-Jahrgang zu vermeiden. Denn die Azubis von heute sind ja auch die Fachkräfte von morgen. Und deshalb setzen wir ein klares Signal. Nicht nur, um den jungen Leuten eine Chance zu geben, sondern Corona wird ja auch irgendwann vorbei sein. Und dann wollen wir nicht über Fachkräftemangel klagen. Deshalb muss jetzt ausgebildet werden, alles andere wäre volkswirtschaftlich und für viele Unternehmen auch betriebswirtschaftlich nicht vernünftig."
Offiziell beginnt ein neues Ausbildungsjahr am 1. August. In diesem Jahr ist alles anders. Der Start der neuen Azubis verschiebt sich um bis zu zwei Monate nach hinten.

Folgeschäden durch Ausbildungsknick

In einer bundesweiten Umfrage vom Zentralverband des deutschen Handwerks, gibt jedes vierte Unternehmen an zu überlegen, weniger Auszubildende einzustellen.
"Wenn es zu diesem erwartbaren Einbruch der Ausbildungszahlen kommt, ist das ein massiver Schaden für die deutsche Volkswirtschaft", befürchtet Stefan Sell, Professor der Volkswirtschaft und Arbeitsmarktexperte an der Hochschule Koblenz.
"Hier geht es ja um Entscheidungen, dass heute Leute eingestellt werden die drei Jahre eine Ausbildung machen und die danach als Fachkräfte zur Verfügung stehen", erklärt er. "Wenn wirklich zum Beispiel jede vierte Ausbildungsstelle im Handwerk nicht besetzt wird, dann wird das natürlich Folgeschäden über die nächsten 10, 20, 30 Jahre haben."
Lampenfieber im Kölner Süden. Der 18-jährige Carlo Darmer steht gerade vor seinem Online-Vorstellungsgespräch für den Ausbildungsplatz zur Pflegefachkraft an der Universitätsklinik Köln. Doch dann: die kurzfristige Absage. Der Termin wird verschoben, auf wann weiß Carlo nicht.
"Ich hätte nicht gedacht, dass das so schwierig ist", sagt er. "Aber aufgrund von Corona müssen eben Maßnahmen getroffen werden, deswegen kann ich das schon nachvollziehen. Aber es ist auf jeden Fall schwieriger, an Vorstellungsgesprächen teilzunehmen."

Kein Interesse an unbezahltem Praktikum

Deutschlandweit gibt es dieses Jahr 450.000 Ausbildungsplätze, das sind 43.000 weniger als im Vorjahr. Aktuell sind von den Lehrstellen noch 200.000 unbesetzt, 180.000 Bewerberinnen und Bewerber sind wie Carlo Darmer auf der Suche.
Eigentlich gute Voraussetzungen könnte man meinen. Achim Dercks vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag macht Mut zur Initiative und rät den jungen Leuten entschlossen zu bleiben.
"In jeden Fall gilt für die jungen Leute auch, den Kontakt zu den Unternehmen zu suchen, nicht abzuwarten, nicht den Kopf in den Sand zu stecken", sagt er. "Denn via Telefon und E-Mail erreicht man mancherorts auch vielleicht eher jemanden als in normalen Zeiten."
Carlo jobbt jetzt erst mal auf 450 Euro Basis in einem Supermarkt. Er wird dranbleiben, nur ein unbezahltes Praktikum will er nicht machen.
"Dann würde ich weiter arbeiten gehen, wie ich das jetzt auch mache und mir nebenbei einen Ausbildungsplatz für August 2021 suchen. Aber ein Praktikum würde ich nicht machen. Weil ich mich nicht darin sehen kann, zu arbeiten, ohne dafür bezahlt zu werden."
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