Ausbildung im Berufsbildungswerk

Auf Umwegen in den Arbeitsmarkt

Ein Mensch sitzt auf einer Fensterbank und stützt seinen Kopf mit den Armen, im Gegenlicht sind nur seine Umrisse erkennbar.
Psychische Erkrankungen sind eine Hürde auf dem Weg in den Arbeitsmarkt. © dpa / picture alliance / Thomas Eisenhuth
Von Kristina Hille · 16.10.2017
Das RKI-Berufsbildungswerk bildet Menschen aus, die ohne spezielle Unterstützung wohl keine Lehre beenden könnten. Die Menschen hier waren schon in der Psychiatrie oder im Gefängnis, manche auch zeitweilig obdachlos. Doch wenn sie hier angekommen sind, geht ihre Reise erst so richtig los.
"Aufpassen, dass der Span nicht zu lang wird, sonst ist Verletzungsgefahr. Und aus. ... Wenn der Span zu lang wird, muss der Arbeitsgang unterbrochen werden. Nicht anfassen."
Seit vielen Jahren arbeitet der Industriemeister Heiko Neuber als Ausbilder für das Rotkreuz-Institut Berufsbildungswerk (RKI-Berufsbildungswerk) im Deutschen Roten Kreuz Berlin. 200 Azubis mit vorwiegend psychischen Einschränkungen lernen hier. Lehrer, Ausbilder, Sozialpädagogen und Psychologen kümmern sich um die Azubis, die besondere Unterstützung brauchen, um einen Berufsabschluss zu erreichen. Herr G.* ist einer von ihnen.

Von Hauswirtschaft bis Gärtnerei

"Ich bin 26 Jahre alt, bin im Bereich Metall, Konstruktionsmechaniker und bin seit ungefähr drei Monaten hier."
Man kann auch eine Ausbildung zum Hauswirtschafter, zum Bürokaufmann, zur Fahrradmechanikerin oder auch wie Frau H. zur Gärtnerin machen,
"Hier haben wir unsere Gießkannen, unsere Siebe, über die Aussaat wird ein bisschen drüber gesiebt. Wir haben auch Feger, Handfeger, weil hier viel geputzt wird. Hygiene ist auch hier wichtig, die Pflanzen können auch krank werden."
Wer hier lernt, hat eine besondere Geschichte, hat schon Umwege im Leben genommen. Einige Azubis waren längere Zeit in der Psychiatrie, andere im Gefängnis oder obdachlos, manche kommen aus ganz "normalen" Verhältnissen. Frau H. etwa wuchs in Berlin Schöneberg auf, Bildungsbürgertum, Standard: Abitur und Studium. Das galt auch für sie.
"Für mich der entscheidende Punkt war, ich hatte ein paar Freunde bei mir zu Hause, die bei mir übernachtet hatten, die sind dann morgens mit mir zur Schule losgegangen und dann hatten wir da an der Busstelle gesessen und der Bus ist angekommen und ich habe kurz davor angefangen so sehr zu weinen, dass ich mich nicht mehr bewegen konnte und dann ist der Bus abgefahren und ich konnte mich immer noch nicht bewegen."
Später reicht der bloße Gedanke an die Schule, um Angst auszulösen.
"Das war der Punkt, an dem ich gemerkt habe, es geht nicht. Es ist nicht nur, ich will nicht, und es ist nicht nur, ich bin faul oder ich strenge mich nicht genug an, sondern es ist einfach meine Krankheit, die es mir nicht erlaubt und es ist auch nicht der ideale Weg für mich."
Herr G. kommt aus Berlin-Kreuzberg. Er ist das älteste Kind daheim und das erste, das vom Jugendamt aus der Familie genommen wird. Er sagt, sein Vater habe ihm für alles und jedes die Schuld gegeben und das habe dazu geführt, dass er immer an sich selbst zweifelte. Als er 19 war, suchte er sich Hilfe.
"Davor hatte ich mit 15 oder 16 angefangen über die Zukunft nachzudenken. Und als ich begann mit leichten Depressionen, weil ich aus dem Zuhause rausgekommen bin und in einer Einzelwohngemeinschaft gewohnt hatte, da hatte ich Heimweh und konnte mich auch bei den Betreuern nicht öffnen, weil die einen verbal schon gemein waren. Es waren nicht alle so, aber wo ich dann Angst hatte, mich zu öffnen, und angefangen hatte zu stottern und dachte ich müsste mich für jeden Satz oder meine Existenz entschuldigen, wo ich aber noch nicht die Erfahrung gemacht hatte, wo ich nur dachte, die ganze Welt ist dämlich..., und man kann eigentlich niemandem richtig vertrauen."

Psychosen und Drogen statt Abitur

Auch Herr S. ist Berliner, aus dem Prenzlauer Berg. Er wollte Abitur machen und eine Ausbildung zum Elektroniker für Energie- und Gebäudetechnik. Beides brach er ab.
"Ich hatte einige Psychosen, ich habe dann irgendwann auch angefangen, Drogen zu konsumieren da hat sich das noch viel mehr ausgeprägt. Man kann es sich so vorstellen, dass ich komplett aufgelöst war, wenn größere Gruppen von Menschen in meiner Umgebung waren. Man kriegt halt Panikattacken, das logisch denkende Hirn hört auf zu funktionieren und du hast nur noch Flucht im Sinne."
Er lebt in WGs, bei Freunden, war kurzzeitig obdachlos.
"Ich habe mir Treppenflure ausgesucht und bin dann oben ins Dachgeschoss und habe die Bewohner gefragt, ob ich da wohnen kann, teilweise bin ich Flaschen sammeln gegangen, im ersten Monat hatte ich noch kein Hartz IV beantragt."
Irgendwann denkt er: So kann es nicht weitergehen.
"Das war halt tiefster Winter, ich saß da oben im Dachgeschoss und wusste gar nichts mehr mit mir anzufangen, habe genau zu diesem Zeitpunkt einen Joint geraucht und als er dann zu Ende war und ich ihn ausgemacht habe, dachte ich mir halt: was jetzt? Ich hatte keine Leute, mit denen ich irgendwie was zu tun haben wollte und konnte. Und ich fand, in dem Moment war ich wirklich ganz unten, und hab halt wirklich was aus meinem Leben machen wollenich wusste halt nur nicht mehr, wo ich ansetzen konnte."
Seine Mutter kontaktiert ihn, möchte ihn bei sich aufnehmen, aber das will er nicht. Sie erzählt ihm vom Berufsbildungswerk.
"Hierher zu kommen, hat mir ein Ziel gegeben; dadurch hatte ich auch ein Bedürfnis nach Struktur, ich wusste, okay, dahin möchte ich, also muss ich jetzt etwas Sinnvolles tun. Und dann bin ich ins LAGeSo arbeiten gegangen, freiwillig. Ich hab da nur gearbeitet, gewohnt hab ich noch im Hausflur, um nicht rumzuhängen bin ich da halt arbeiten gegangen."
Psychotherapeuten sprechen davon, dass jedes vierte Kind, jeder vierte Jugendliche in Deutschland Verhaltensauffälligkeiten oder psychische Probleme zeigt. Die Kinder- und Jugendgesundheitsstudie geht von rund 10 Prozent aus, die behandlungsbedürftig erkrankt sind. Das wären über eine Million der Kinder und Jugendlichen an allgemeinbildenden sowie beruflichen Schulen.

Psychische Erkrankungen nehmen zu

Die gesundheitliche Situation für sie hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert. Körperliche Erkrankungen verlieren, psychische Erkrankungen gewinnen an Bedeutung. Ernst von Kardoff war bis 2016 Professor am Institut für Rehabilitationswissenschaften der Humboldt-Universität in Berlin.
"Natürlich geschieht die Produktion von psychischen Krankheiten auch innerhalb des Systems, teilweise durch Erweiterung von Diagnosen, ist ein Dilemma, auf der einen Seite diagnostiziert man genauer, auf der anderen Seite entstehen gerade dadurch neue Krankheitsbilder."
Kardoff, der sowohl Psychologe als auch Soziologe ist, berichtet weiter:
"Man darf nicht vergessen, dass dahinter steckt ein ganzer psycho-sozial psychiatrischer Komplex, einschließlich natürlich auch der Pharmaindustrie."
Elisabeth Bächler arbeitet als Förderplankoordinatorin. Sie fragt Herrn G., wo er die Vorteile zum IT-Bereich sieht, was er sich dort besser vorstelle als etwa im Vergleich zum Gärtnerbereich?
"Na ja, also, das Interessantere, Vorteilhaftere ist, was ich denke, eigentlich, dass man den Kopf mehr anstrengen muss."
Herr G. ist noch in der Berufsvorbereitung. In dieser Phase kann er im Berufsbildungswerk verschiedene Möglichkeiten ausprobieren. Mit seiner Förderplankoordinatorin diskutiert er verschiedene Optionen. Die Förderplankoordinatoren sprechen regelmäßig mit den Azubis, in Gruppen- und in Einzelgesprächen.
Bächler hakt nach:
"Was ist die Befürchtung?
Herr G. antwortet der Koordinatorin:
"Na ja, dass ich, ich habe manchmal noch so ein kleines Problem, dass ich bei so vielen Kriterien, wie beim letzten Gespräch, dass ich dann mental so aufgewühlt bin. Und das ist so das Problem, dass es dann so verschiedene Emotionen auf einmal sind."

Die Kandidaten müssen zuvor einen Test absolvieren

Bächler macht Herrn G. Mut:
"Mein Kollege hat Sie ja begleitet zu dem Termin, der hat mir das ganz anders erzählt. Der hat gesagt, dass Sie sich sehr gut vertreten haben, dass Sie sehr gut sich selbst dargestellt haben und dass Sie auch die Reha-Beraterin überzeugt haben davon, dass es weitergehen soll."
"Ja, nur, trotzdem habe ich manchmal das Problem, wenn ich konzentriert bin, mich selbst kneife, dass ich versuche die Angst mit Schmerzen zu verjagen."
Die Koordinatorin stärkt den Rücken:
"Ja, und Sie arbeiten ja schon sehr stark an sich und vielleicht werden Sie das auch noch los mit der Zeit."
Auch die Rehabilitationsberaterin der Agentur für Arbeit, die die Maßnahme in der Regel finanziert, wird bei der Berufswahl einbezogen.
Das bedeutet, die Kandidaten müssen sich zuvor Testverfahren unterziehen, werden beurteilt, eingeordnet – davon ist abhängig, welche Fördermaßnahmen bezahlt werden. Für Gudrun Lehmann von der Agentur für Arbeit Potsdam – ein ganz normales Verfahren:
"Um den entsprechenden Förderbedarf festzustellen, ist es erforderlich, dass wir bestimmte Gutachten erstellen."
Die Agentur hat einen ärztlichen und einen berufspsychologischen Gutachterdienst, wie Lehmann erläutert.
"Das berufspsychologische Gutachten zum Beispiel wird nach einem standardisierten Verfahren erstellt. ICF heißt das, bedeutet internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. Dabei werden die psychische Belastbarkeit, die Kontaktfähigkeit, die emotionale Stabilität und die Selbstsicherheit sowie die intellektuelle Leistungsvoraussetzung betrachtet."

Die Tests bedeuten Stress - und oftmals Enttäuschung

Von den Ergebnissen hängt ab, welche Fördereinrichtung die Agentur für geeignet hält.
"Wenn ein ärztliches Gutachten aussagt, dass die Leistungsfähigkeit des betroffenen Jugendlichen im Moment unter drei Stunden täglich und das mindestens sechs Monate lang zu bewerten ist, dann ist die Frage zu stellen, ob eine Einmündung in eine Werkstatt für behinderte Menschen das passende Förderinstrument ist."
Für die Kunden, wie sie in der Agentur genannt werden, bedeuten die Tests Stress. Und sie sind häufig mit Enttäuschungen verbunden. Herr R. berichtet, wie es bei ihm war.
"Dieses Testresultat, das habe ich zu Hause noch, das war sehr vernichtend: Hauptschulniveau, ich hatte mich dann schon ein bisschen besser eingeschätzt. Da verweigere ich mich innerlich irgendwie, weil das fachlich an sich gar nichts mit dem Studium zu tun hat, mit dieser Ausbildung auch nicht."
Auch Herr S. berichtet, das der Weg ans Förderwerk nicht einfach war.
"Das war ein harter Kampf, hierher zu kommen, die Behördengänge. Bis endlich was passierte hat es ein Jahr gedauert und teilweise war ich drei bis vier Monate davor auf der Straße. Da ist einfach kein Ende in Sicht und das verzögert sich und verzögert sich. Ich bin eine Zeit lang jeden Tag dahin gefahren, weil sie mir keine klare Auskunft gaben, wie es laufen wird. Oder weil sie unheimlich viele Unterlagen verschlampt haben, wo ich es schwarz auf weiß hatte, dass ich sie abgegeben habe."
Rehabilitationsberaterin Lehmann von der Arbeitsagentur beschreibt das Verfahren, das zunächst mal allen offen steht:
"Jeder, der die Unterstützung der Agentur für Arbeit nutzen möchte, kann sich jederzeit bei uns melden, auf den bekannten Wegen, persönlich, schriftlich, online, per E-Mail und bekommt dann einen Termin zur Beratung. Dort wird dann entschieden, wie das weitere Verfahren zu laufen hat."

"Das ist schon frustrierend für die Leute"

Auch Herr R. machte zunächst negative Erfahrungen mit der Agentur für Arbeit und es dauerte lange, bis er überhaupt von der Ausbildungsmöglichkeit im Berufsbildungswerk erfuhr.
"Ich hatte eine Berufsberaterin, die hat gesagt, dass ich nie wieder was finden werde, mit einer abgebrochenen Ausbildung. Dann war da noch eine Berufsberaterin, die kannte mich dann schon sehr lange und die hat sich das dann angeguckt und hat dann gemerkt, ah, der spinnt nicht, sondern dem geht’s wirklich schlecht. Und diese Berufsberaterin hat mir dann drei Berufsbildungswerke gezeigt."
Frau Meier, die ihren richtigen Namen nicht sagen möchte, arbeitete viele Jahre als Sozialarbeiterin in der Jugendberufshilfe. Im Auftrag der Agentur für Arbeit suchte sie Ausbildungsplätze.

"Da geht es immer um Defizite. Das ist schon frustrierend für die Leute, wenn sie immer durchleuchtet werden und ihnen immer gesagt wird, ihr könnt das nicht und ihr seid nicht belastbar, oft ist das auch Tagesform abhängig und subjektiv."
Für die Arbeitsagentur ist es auch eine Kosten-Nutzenabwägung. Nicht selten, sagt Frau Meier, findet sich ein Ausbildungsplatz, doch die Arbeitsagentur lehnt die Förderung ab. Wie bei einer psychisch kranken Klientin, die die Agentur lieber in eine Behindertenwerkstatt schicken wollte.
"Sie selber hat gesagt, ich bin nicht behindert, ich will nicht in eine Werkstatt für Behinderte, ich will eine Ausbildung machen. Die ist morgens um fünf aufgestanden, ins Praktikum gefahren, war pünktlich. Das war für mich der Punkt, dass ich gesagt habe, okay, wir probieren es. Wir haben es dann doch durchgekriegt, ich glaube der Berufsberater hätte mich am liebsten aufgefressen."
Förderplankoordinatorin Bächler kennt das Problem der Kosten auch:
"Wenn es in den Wohnbereich geht, Internat, auch da ist die Arbeitsagentur häufig involviert und sagt, das wäre ganz gut für den Teilnehmer, wenn er ins Internat zieht. Aber es kostet natürlich auch was und dann muss abgewägt werden, ist es wirklich das richtige, braucht er diese Internatsunterbringung? Weil er den Weg zum Beispiel nicht schafft, aus Ängsten vor Bus und Bahn? Kann der von dem Angebot hier auch profitieren, hier wirklich 24 Stunden einen Ansprechpartner zu haben."

100.000 Euro bis zum Abschluss

Die Rehabilitationsberaterin von der Arbeitsagentur, Gudrun Lehmann, äußert sich zu den Kosten:
"Wenn man von finanziellen Mitteln sprechen möchte, die wir für jeden Teilnehmer in die Hand nehmen, dann kann man so sagen: Mit BvB, der Berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme, eines jungen Menschen und mit Ausbildung mit einem Ausbildungsgeld, das von uns dann finanziert wird, und mit Pendelkosten kommt man doch recht schnell auf 100.000 Euro im Schnitt."

Auch im Berufsbildungswerk werden die Teilnehmer getestet, vor allem in den ersten Wochen der Arbeitserprobung, sagt die Förderplankoordinatorin Elisabeth Bächler.
"Manche Tests sind einzeln, da sitzt der Teilnehmer vor dem Computer und muss einen Fragebogen beantworten. Ein Intelligenztest, dass man vor dem Rechner sitzt und diverse Matheaufgaben lösen muss; figürliches Denken wird hinterfragt, ob jemand da seine Stärken hat, wenn Mathematik schwach ist. Und um Depressionen geht es häufig im Eins-zu-eins-Gespräch mit dem Psychologen, dass da Sachen gefragt werden, wie sich die Symptome äußern, wie lange die Symptome schon da sind, ob man schon von einer Persönlichkeitsstörung sprechen kann oder ob es eine psychiatrische Erkrankung ist."
Im Unterricht geht es nicht immer nach Plan. Da sagt ein Schüler auch schon mal "Heute nicht". Wenn die Lehrerin dann nachfragt, was denn heute los sei, bekommt sie vom Schüler schon mal zu hören, er sei nicht gut gelaunt.
"Aber ganz schön schlecht gelaunt, also ich habe Sie schon anders erlebt, dass Sie begeistert endlos langen an Texten gewesen, aber heute haben Sie keine Sprechstunde."
Der Schüler antwortet patzig:
"Nicht bei ihnen."
In dieser Klasse der Berufsschule sitzen zehn Azubis, sie wollen Gärtner werden. Unterrichtsthema ist heute: Strafe und Resozialisierung.

Die Lehrerin muss manches aushalten, thematisiert das aber auch.
"Oh, er schreibt ja. Ja, wenn Blicke töten könnten."
Sie erträgt auch die Antwort des Schülers.
"Dann wären sie längst."
"Ja, das habe ich deutlich gespürt."
Weiter geht es im Unterricht, die Lehrerin kommt zum Thema "Strafe und Resozialisierung" zurück.
"Okay, alle haben sich Gedanken gemacht, na dann… Welchen Zweck hat Strafe?"

Ein Schüler antwortet:
"Abschreckung, Resozialisierung"
Ein anderer fährt fort:
"Na ja. Die Gefängnisse hier, ist ja wohl Luxus, gegen die amerikanischen oder russischen."
Die Lehrerin hakt nach:
"Also keine Abschreckung?"
Wieder beteiligen sich mehrere Schüler:
"Aber trotzdem nicht schön."
"Hier ist das noch harmlos, wegen den Menschlichkeitsrechten."
"Für mich ist alles okay, aber mehr Abschreckung"

Bei Suizidgedanken geht es in die Klinik

Die Lehrerin stellt das Thema in den Kontext ihrer Klasse:
"Das ist ja auch ein bisschen so wie bei uns, im Kopf muss ja was passieren. Man kann ja sozusagen nicht Therapie über jemanden auskippenwenn der das nicht will, dann wird nix passieren."
Manche Azubis erleiden Rückschläge, geraten in eine tiefe Krise.
Ausbilder Neuber berichtet, wie es dann weitergeht:
"Als erstes versuchen wir das Gespräch mit dem Teilnehmer, meist mit zwei Ausbildern, nicht, um den Druck aufzubauen, sondern, um die möglichste beste Objektivität zu gewährleisten. Das findet manchmal hier im Büro statt, aber auch manchmal draußen, dass man mal rausgeht aus der Werkstatt. Wenn das alles nichts hilft, dann versuchen wir es über den sozialpädagogischen Dienst. Wenn das nichts hilft, dann müssen wir den psychologischen Dienst mit einschalten und versuchen als Kompetenzteam eine Lösung zu finden."
Förderplankoordinatorin Bächler kennt auch Situationen, wo es ganz ernst wird:
"Im Notfall und wenn es ganz schwerwiegend ist, in Richtung Suizidgedanken oder ähnliches, dann wird auch ein Krankenwagen gerufen, der die Teilnehmer in die entsprechende Klinik bringt."
Herr S. und Frau H. sind froh, einen Platz gefunden zu haben, an dem sie eine Ausbildung absolvieren können, ohne Stress, mit viel Unterstützung.

"Grundsätzlich die Möglichkeit, in einem anderen Rahmen zu lernen. Vielleicht das Miteinander auch wieder eher zu lernen, weil du nicht die Position des Sonderlings hast, die du vielleicht öfter hattest, sondern, dass du hier vielleicht gemeinsam, miteinander lernst."
"Die Möglichkeit zu sagen, ich kann grad nicht, es ist mir grad zu viel, mein Kopf hört grad nicht auf und ich kann grad nicht arbeiten, ich kann mich nicht konzentrieren, ich brauche Ruhe. Dass ich mir mal einen ganzen Tag, einen sogenannten Reha-Tag nehmen kann, und mich darauf konzentrieren darf, erst einmal in eine psychisch stabile Lage zu kommen. Und dann am nächsten Tag oder ein paar Stunden später oder am nächsten Tag kann ich weiterarbeiten, bin ich über den Berg und es ist kein großes Thema, es ist nicht dramatisch und es wird auch nicht belächelt."

Prüfungen nach IHK-Standard

Die Prüfungen müssen die Azubis – trotz möglicherweise hoher Ausfallzeit – alle bestehen. Es sind keine Sonderprüfungen, sondern Abschlüsse nach bundeseinheitlichem IHK-Standard. Das Berufsbildungswerk und die Agentur für Arbeit begleiten die Absolventen in den meisten Fällen in den ersten Job, suchen mit ihnen potenzielle Arbeitgeber.
Rehabilitationsberaterin Lehmann von der Arbeitsagentur macht klar, dass es mit der Ausbildung allein noch nicht getan ist.
"Circa vier Monate bevor die Ausbildung endet, beginnt das Absolventenmanagement. Wir können sagen, dass ungefähr 50 Prozent unserer Absolventen auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Tätigkeit finden."
Ausbilder Heiko Neuber äußert sich, warum er beim Berufsförderungswerk arbeitet:
"Die Entwicklung der Teilnehmer ist schon mit das Beste. Wenn man sieht, wo sie gestartet sind: Ihre eigene Einstellung, Einstellung zu anderen Menschen, auch das Selbstbewusstsein, das sie an den Tag legen, nach der Ausbildung und später im Arbeitsleben, das ist im Prinzip, die Motivation, hier zu arbeiten."

Nicht immer laufe alles glatt, räumt Neuber ein.
"Es gibt auch schwierige Fälle, wo es dann schon mal an die Substanz geht, wo man sich dann zusammenreißen muss, wo man dann auch mit unseren Sozialkompetenzen arbeiten muss, aber auch mit dem ganzen Team."
Herrn R., der seit der 9. Klasse unter Depressionen leidet, hat sein Abitur gemacht und im Berufsbildungswerk eine Ausbildung als Bürokaufmann abgeschlossen. Er lehnte Unterstützung bei der Arbeitsplatzsuche ab.
"Das habe ich erst einmal ausgeschlagen, weil ich gesagt habe, ich möchte mich darum selber kümmern. Man muss sich dann arbeitssuchend melden und da hat man mir auch Stellen vorgelegt, auf die ich mich bewerben musste. Das habe ich eher halbherzig gemacht, für 1000 Euro brutto 40 Stunden Callcenter. Da habe ich zu der Beraterin gesagt, na ja, dafür habe ich keine Ausbildung gemacht. Das kam auch nicht so gut an, deshalb habe ich mich komplett auf mich selber verlassen."
Und er hat damit Erfolg gehabt, denn inzwischen hat er eine Arbeit, die ihm gefällt.
"Nach den Staatlichen Museen zu Berlin bin ich jetzt in einem Amt* tätig und meine Tätigkeiten sind eigentlich die gleichen, ich muss ein Sekretariat führen, mit einer Kollegin und ja, die genauen Aufgaben, Termine organisieren, Veranstaltungen organisieren, Räume reservieren. Also, nichts Dramatischesaber das Umfeld ist toll. Das war so eine Poolausschreibung, die haben mehrere Büroplätze dort frei gehabt. Und dann hatte ich ein bisschen später, ich glaube einen Monat, bei den zwei Chefinnen das Vorstellungsgespräch*. Die haben dann gesagt ‚Ja, wir haben uns für sie entschieden, allerdings muss der Geheimschutz noch zustimmen.‘ Man muss da ja so eine Sicherheitsüberprüfung machen."

Logik des Marktes ist nicht inklusiv

Seine Anstrengungen bei der Ausbildung und die Unterstützung haben sich ausgezahlt, er hat Fuß gefasst auf dem Arbeitsmarkt. Er hat bewusst den öffentlichen Sektor gewählt, sagt Herr R.
"Natürlich gab es auch psychische Tiefs, das ist bei mir meistens ein bis zwei Tage. Da habe ich dann meiner Kollegin eine SMS geschrieben, die war natürlich nicht begeistert, aber kann dann auch nichts machen. Meine Chefin hat zwar gefragt, ob mit der Arbeit irgendwas ist, aber ich hab dann gesagt, das ist privat. In Firmen macht das eher einen kontraproduktiven Eindruck, wenn man sich auf den freien Arbeitsmarkt bewirbt, deshalb habe ich mich auch jetzt für den öffentlichen Dienst entschieden, man ist da besser geschützt."
Nicht wenige psychisch Kranke aber haben große Schwierigkeiten beim Erst- oder Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt.

Rehabilitationswissenschafter Ernst von Kardoff sagt:
"Die Frage des inklusiven Arbeitsmarktes steht gegen die Logik des Arbeitsmarktes selbst, der eben ein wettbewerbsorientierter, an Angebot und Nachfrage orientierter ist, der von der Struktur her eben nicht inklusiv ist. Deswegen gibt es eine Vielzahl von Angeboten für Menschen, die mit den Anforderungen und Geschwindigkeiten aufgrund ihrer Biographie und speziellen Vulnerabilität oder auch schon Störung oder Krankheit nicht mitkommen können."
Von Kardoff hat sich viele Jahre wissenschaftlich mit der beruflichen Rehabilitation von Menschen mit psychischen Störungen beschäftigt. Es gebe viele Belege dafür, dass sich ihre Rehabilitation auch für die Gesellschaft auszahle, weil die Betroffenen dann wieder Geld verdienten und in die Sozialsysteme einzahlten. Dennoch, in der Arbeitswelt sei die Thematisierung schwierig.
"Es ist für den Betroffenen auch ein Kraftakt, denn er muss seine Probleme ein Stück weit veröffentlichen und sich damit mit seinen Einschränkungen sichtbar machen."

Auch das Umfeld ist gefragt

Auch Arbeitgeber und Kollegen brauchen einen langen Atem. Für beide Seiten ein schwieriges Arrangement.

"Wenn jemand zum Beispiel depressiv ist, Arbeiten nicht rechtzeitig abschließen kann, zu langsam ist, morgens zu spät kommt, wenn dann keine individuellen Lösungen gefunden werden, dann verstärkt sich das Problem für den Betroffenen und für die Kollegen, die die Arbeit machen müssen. Dann ist die Sache, warum kriegen die jetzt bessere Bedingungen. Ich erinnere mich, was in der Zeitschrift mit den großen Buchstaben präsentiert wurde: ein Lehrer in Bayern, der wegen Depression arbeitsunfähig geschrieben war und dann als Bergführer nebenbei entdeckt worden ist, solche Fälle gibt es, das sind Einzelfälle. Natürlich gibt es den Vorbehalt, dass jemand sich über die Zuschreibung einer psychischen Krankheit einen sekundären Gewinn verschafft, es ist eine Frage der Unternehmenskultur, wie mit so etwas umgegangen werden kann."
Sozialarbeiterin Meier sieht das Problem differenziert:
"Es geht die Kritik auch an die großen Unternehmen, oft sind es kleine Firmen, die sowieso schon kämpfen und sagen ‚Okay, wir probieren es‘, aber es gibt genug große Firmen, die haben zwar so eine Quote, aber den meisten ist es egal, die zahlen halt ihre Strafe und stellen die Leute eben nicht ein."
In einigen Ländern hat man gute Erfahrungen mit Jobcoachs gemacht. Nach der Zeit im relativ geschützten Raum der Ausbildung oder Rehabilitation begleiten sie die Azubis oder Wiedereinsteiger beim Übergang ins Berufsleben. Das erleichtert den Unternehmen die Eingliederung und verbessert die Chancen der dauerhaften Erwerbstätigkeit.
"Es gibt Möglichkeiten des Arrangements auch mit der Krankheit, diese wird vielleicht nicht völlig verschwinden, aber sie ist für den Alltag und für die Arbeitswelt gestaltbar durch die betroffenen Personen. Insofern sollte man immer die beiden Dinge im Blick haben, dass die Frage der Ausprägung von Symptomen nicht nur ein individuelles Problem ist, sondern auch ein Problem des familiären, des nachbarschaftlichen Umfelds, des Arbeitsumfeldes und selbstverständlich auch der Einstellungen der Bevölkerung gegenüber psychisch kranken Menschen. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass ein schrittweiser Mentalitätswandel stattfindet. Das kann man ja nicht gesetzlich verordnen, sondern das ist eine Frage der Kultur, des Umgangs mit Unterschiedlichkeit."
Arbeit hat zwar grundsätzlich eine stabilisierende Wirkung, auch für psychisch vorbelastete Menschen. Dauerhafte Belastung am Arbeitsplatz macht aber krank. Mangelnde soziale Unterstützung, Mobbing, befristete Arbeitsverträge, berufliche Unsicherheit, permanente Erreichbarkeit. All das ist Stress, Stress, der sich in die Seele frisst.
Nach Angaben des AOK-Bundesverbandes ist der Arbeitsausfall durch psychische Erkrankungen in den vergangenen zehn Jahren überproportional stark gestiegen. Mit über 25 Tagen je Fall lagen die Ausfallzeiten 2016 an der Spitze aller Erkrankungen.

Individuelle Arrangements sind oft nötig

Von Kardoff würde sich in der Arbeitswelt mehr Feedback wünschen.
"Wenn man davon spricht, dass es eine Zunahme gegeben habe, dann sind das vor allem die Angsterkrankungen und die Depressionen. Es gibt in Arbeitswelt viel Frustration, mangelnde Anerkennung. Jemand gibt viel und bekommt wenig zurück, materiell und immateriell oder überhaupt. Mal ein gutes Wort zu hören, in dem Sinne, ein ‚gut gemacht‘ oder ‚ich bin ihnen dankbar, dass sie die gute Idee hatten und das hat uns weitergebracht‘. Bei vielen Menschen zeigt sich dann das sogenannte Verbitterungssyndrom, dass man hat einfach das Gefühl, man hat ganz viel gegeben und es kommt nix rum."
Die soziale Position, die gesellschaftliche Anerkennung, ist von bezahlter Arbeit abhängig und auch deshalb quält sich mancher Kranke durch endlose Reha-Schleifen.
"Nun gibt es aber auch Menschen, die trotz der vielen, oft sehr langen, Reha-Schleifen nicht auf den allgemeinen Arbeitsmarkt kommen und vielleicht auch nicht kommen können. Die Diskussion mit dem Grundeinkommen hätte den großen Vorteil, dass sie aus der direkten Institutionenabhängigkeit herauskommen, es ist noch keine Lösung dafür: Was ist sinnvolle Tätigkeit Jeder Mensch will notwendig sein, auch selbst etwas Sinnvolles für die Gesellschaft beitragen können, da wäre durchaus die Möglichkeit, dass manche Menschen sich, vielleicht stundenweise, ehrenamtlich betätigen, dafür auch eine finanzielle Vergütung bekommen. Da ginge es geht darum, Alternativen jenseits der Erwerbsarbeit zu entwickeln."
Herr R. sagt, dass er viel stabiler ist, nach seiner Ausbildung im RKI-Berufsbildungswerk und seitdem er einen Job hat.
"Dass man auch merkt, na ja, man kann ja doch irgendetwas. Man wird doch irgendwie gebraucht, und wenn man auf der Arbeit gut ist und auch gelobt wirdim Amt* wurde ich gelobt, bei den Museen auchdann fühlt man sich irgendwie wichtig und das ist natürlich auch ein wichtiger Faktor, dass man merkt, man ist keinem wurscht."
Die Azubis wollen ihre Ausbildung erfolgreich abzuschließen und hoffen, dass sie dann einen Platz auf dem Arbeitsmarkt finden.
Herr G. hat schon Prioritäten gesetzt für die Abschlussphase.
"Ich weiß auch nicht genau, wie das so aussieht auf dem Arbeitsmarkt. Aber ich will, wenn ich hier fast fertig bin, mir erst einmal eine eigene Wohnung suchen und dann mit Lebenslauf und Bewerbungen mich bewerben, in die Richtung in der ich meine Ausbildung habe."
Herr S. hat sowohl ein berufliches Ziel als auch einen Traum, der nicht direkt mit dem Beruf zu tun hat
"Im besten Fall Facharbeiter, ein strukturierten Tagesablauf, dass ich selbstständig bin und Verantwortung übernehme, für mich und für andere. Und mein großes Ziel, welches ich verwirklichen wollte, wenn ich meine Ausbildung habe, ist, durch die Welt zu reisen."
Frau H. will vor allem eines beim Job.
"Ich habe keine hohen Ansprüche an das Geld. Es muss sicher sein. Es ist kein Zuckerschlecken ist, es ist kein Ponyhof, aber es ist etwas, womit ich mich auch persönlich identifizieren kann, ich als Gärtner, das passt mir irgendwie."

*Die Namen der Azubis des RKI-Berufsbildungswerkes wurden auf Wunsch anonymisiert.
*Auf Wunsch des O-Tongebers wurden die Angaben zum Arbeitgeber entfernt.
(mf)
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