Ausbeutung im Medizinstudium

Die Billigärzte vom Dienst

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Blick in einen OP Raum mit Ärzten in Schutzkleidung
Im Krankenhaus ohne Bezahlung arbeiten, das gehört zum Medizinstudium dazu. © gettyimages / Westend61 / Mareen Fischinger
Ein Kommentar von Nemi El-Hassan · 06.08.2020
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Arzt oder Ärztin ist immer noch einer der beliebtesten und angesehensten Berufe. Der Zugang dazu steht formal allen offen, die Praxis sieht allerdings anders aus, kritisiert die Journalistin und angehende Ärztin Nemi El-Hassan.
Stellen Sie sich einmal vor: Sie sollen inmitten einer globalen Pandemie in das Epizentrum des Geschehens – also in die Krankenhäuser – gehen und Tag für Tag ihre eigene Gesundheit und die ihrer Familie aufs Spiel setzen, um anderen zu helfen. Und sie bekommen dafür genau: nichts. Keinen einzigen Cent.
Klingt unvorstellbar und so gar nicht nach Deutschland? Tja, das ist die blanke Realität vieler Medizinstudierender in diesem wohlhabenden Land. Denn die Studierenden müssen während ihrer Zeit an der Universität Praktika in Krankenhäusern ableisten. Das längste davon dauert ein ganzes Jahr.
Und obwohl die ärztliche Approbationsordnung eine Bezahlung dieser Praktika ermöglicht, kann das eher als eine Anregung gewertet werden und ist in keinem Fall verbindlich wirksam. Viele Krankenhäuser machen sich dieses laxe Regelwerk zunutze und lassen Studentinnen und Studenten umsonst und in Vollzeit für sich arbeiten. Wenn die Glück haben, gibt es vielleicht ein kostenloses Mittagessen obendrauf.

Man braucht ein reiches Elternhaus im Rücken

Abgesehen von der moralischen Fragwürdigkeit dieser Praxis, die sich einreiht in den allgemeinen Kostendruck innerhalb unseres Gesundheitssystems, ergeben sich hier auch ganz praktische Fragestellungen. Wie soll man eigentlich ein Studium finanzieren, wenn man bereits montags bis freitags von früh bis spät in der Klinik feststeckt?
Gehen wir einmal davon aus, dass der Baföganspruch schon erschöpft ist – also quasi Normalfall –, dann bleiben genau drei Möglichkeiten: Erstens, man gehört zu denjenigen, denen das Schicksal ein finanziell gesegnetes Elternhaus zugedacht hat. Dann "Hallelujah". Zweitens, man nimmt einen Studienkredit auf – also amerikanische Verhältnisse. Und drittens, man macht es wie meine Freundin. Die ist nach ihrem Tagesdienst in der Klinik direkt weitergezogen zu ihrem Zweitjob in einem Schlaflabor. Dort hat sie Patientinnen und Patienten beim Schlafen beobachtet, ist ab und zu selbst eingenickt und hat sich ansonsten mit Koffeintabletten Abhilfe verschafft. Genau, ich wäre am nächsten Tag auch nicht gern von ihr behandelt worden.

Unbezahlte Arbeit muss man sich leisten können

In einer Zeit, in der allenthalben von sozialer Gerechtigkeit und der Wichtigkeit medizinischer Berufe gesprochen wird und in der sich noch vor ein paar Wochen Tausende Menschen allabendlich auf ihren Balkonen zum Klatschen einfanden, sind solche Zustände ein Schlag ins Gesicht. Es macht mich wütend.
Auch ich habe Medizin studiert und mich dabei in einer Art Paralleluniversum wiedergefunden: umringt von weißen Studentinnen und Studenten aus der Mittel- und Oberschicht. Die Eltern entweder selbst Mediziner, Juristen oder Unternehmer – ganz egal, Hauptsache akademisch.
In all den Jahren, die ich an der Universität verbracht habe, konnte ich diejenigen, die eine ähnliche Geschichte wie meine teilten, an einer Hand abzählen. Eltern ohne höhere Schulbildung und ohne prestigeträchtige Jobs, dafür aber mit Migrations- und Fluchtgeschichte. Man selbst das erste Familienmitglied an der Uni. Auf dem Weg dahin unzählige Hürden, die es zu nehmen galt, unzählige Momente, die die Weichen Richtung Abgrund hätten stellen können. Und am Ende reinstes Glück, dass es nicht so kam.

Selektion aufgrund des Geldbeutels

All das, nur um zu spüren, dass man an der Universität zwar formal willkommen geheißen, aber praktisch gar nicht berücksichtigt wird. Denn es wird wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass sich jeder, der es bis an die angesehenen Unikliniken dieses Landes geschafft hat, unbezahlte Arbeit leisten kann. Ausbeuten: Das tun immer nur die anderen.
Ein solches System denkt Abweichungen von der Norm, also Studierende wie mich und meine Freundin, nicht mit. Es ist also entweder fehlerhaft oder aber es funktioniert genau so, wie es von Anfang an gedacht war: Es lässt nur diejenigen herein, die schon immer rein kamen. Und der Rest muss leider draußen bleiben.

Nemi El-Hassan ist Ärztin und Journalistin. Für das Funk-Format "Jäger und Sammler" stand sie die vergangenen vier Jahre vor der Kamera. Außerdem hat sie für "der Freitag", den "Tagesspiegel" und die "taz" geschrieben. Sie lebt in Berlin.

Porträt der Ärztin und Journalistin Nemi El-Hassan
© Alexander Probst
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