Ausbau der A 643

Ödlandschrecke in Gefahr

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Blauflügelige Ödlandschrecke (Oedipoda caerulescens), bei der Nahrungsaufnahme, fressend, Biosphärenreservat Mittelelbe, Sachsen-Anhalt
Die blauflügelige Ödlandschrecke bei der Nahrungsaufnahme © imago images / imagebroker /Thomas Hinsche
Von Anke Petermann · 19.08.2019
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Sechsspurig soll die Autobahn zwischen Mainz und Wiesbaden werden, denn viele Pendler stehen regelmäßig im Stau. Doch der geplante Ausbau führt durch ein Naturschutzgebiet: Seltene Tiere wie die Ödlandschrecke könnten ihren Lebensraum verlieren.
Ein Dünengebiet aus voreiszeitlichen Flugsanden am Rande einer Großstadt, darüber liegt leises Verkehrsrauschen. Seit 1966 schlägt die Autobahn A 643 eine Schneise durch den Mainzer Sand und den angrenzenden Lennebergwald. Der Kiefernwald und der Sandrasen mit Kiefernhainen stehen beide unter Naturschutz, sind Lebensraum für stark gefährdete oder vom Aussterben bedrohte Tier- und Pflanzenarten, wie Sand-Radmelde und Dünen-Steppenbiene.
"Diese Sandkiefern fangen direkt über dem Boden an, Zweigäste zu bilden."
"Das ist eine eigene Unterart, das ist auch genetisch nachgewiesen", genau wie das blau-grüne Schillergras sind diese Mini-Kiefern charakteristisch für den wertvollen Steppen-Lebensraum, erklären Heinz Hesping, Sprecher des Bündnisses "Nix in den Mainzer Sand setzen", und Jürgen Weidmann vom AK Umwelt Mombach.
Der Arbeitskreis lädt Freiwillige regelmäßig zur Biotop-Pflege, damit die Magerrasen-Standorte nicht verbuschen. Auch Fridays-for-Future-Aktivisten schauten hier jüngst vorbei.

Erste Pläne für den Ausbau gab es schon 2013

Seit Jahren beklagen Autopendler zwischen Mainz und Wiesbaden lange Staus morgens und abends und fordern den sechsspurigen Ausbau der A 643. Etwa 66.000 Fahrzeuge sind täglich auf dieser Verbindungstraße zwischen den Autobahnen A 60 und 66 durchs Ballungsgebiet Rhein-Main unterwegs. 84.000 werden für 2030 prognostiziert. 2013 wies der damalige Bundesverkehrsminister Ramsauer von der CSU die rot-grüne Landesregierung von Rheinland-Pfalz an, die Ausbau-Planung umzusetzen. SPD und Grüne hatten sich gegen zusätzlichen Flächenverbrauch und für die flexible Freigabe verbreiterter Standstreifen stark gemacht, das Modell namens 4 plus 2. Doch jetzt koalieren beide Parteien mit der FDP, die den Landessverkehrsminister stellt. Volker Wissing begrüßt das Vorhaben und sagt zur Offenlegung der Pläne: "Wir sind im Zeitplan. Wir haben alles getan, damit das wichtige Verkehrsinfrastrukturprojekt für die Region hier vorangetrieben wird."

Protest kommt weiterhin von zwei Dutzend Gruppen aus dem Bündnis "Nix in den Mainzer Sand setzen". Wenn eine acht Meter hohe Lärmschutzwand dieser Steppenvegetation den genetischen Austausch und den trockenen Wind nimmt, bleibt vom Naturschutzgebiet europäischen Rangs wenig, argwöhnen die Ausbau-Gegner. Sie hoffen, dass die EU interveniert. Zumal, so Heinz Hesping:
"Wir haben ja eine Alternative mit 4 plus 2. Also, dieser sechsspurige Ausbau komplett von Schiersteiner Brücke bis Mainzer Dreieck ist unseres Erachtens nicht notwendig. Wir wollen ja den Standstreifen in verkehrsreichen Zeiten freigeben, wie das auch bei Klein-Winternheim hervorragend funktioniert."
Die beiden Standstreifen verbreitern, den breiten Mittelstreifen entsprechend verkleinern und so den Pendlerströmen morgens und abends ohne zusätzlichen Flächenverbrauch mehr Platz verschaffen. Flüster-Asphalt verlegen und Tempo 80 vorgeben. Das alles würde die teure, Biotop-schädigende Lärmschutzwand überflüssig machen. Gerade den Ausbau für Tempo 130 findet der grüne Biologe Helmut Ludewig bedenklich:
Autobahnausbau-Gegner vom Bündnis "Nix in den Mainzer Sand setzen" unterwegs im Naturschutzgebiet "Mainzer Sand"
 
Autobahnausbau-Gegner vom Bündnis „Nix in den Mainzer Sand setzen“ unterwegs im Naturschutzgebiet© Deutschlandradio / Anke Petermann
"Ein Irrsinn, gerade auf dieser Strecke, die ja eigentlich eine Art Stadtautobahn ist, so dicht getaktet, wie die Ein- und Ausfahrten sind. Und da mit 130 durchzufahren, und bei jeder Ein- und Ausfahrt muss man sowieso wieder bremsen, das gibt dann diesen Ziehharmonika-Effekt und Stau. Dann lieber 80, dann haben wir gleichmäßigeren Verkehr, dann gibt’s weniger Stau plus weniger Lärm."

Lennebergwald könnte Opfer des Projekts werden

Vermieden werden könnte mit demselben Modell auch der Ausbau durch den geschützten Lennebergwald im anschließend geplanten Abschnitt. Auch dieser Kiefernwald wächst auf Sand und Muschelkalk des tertiären Meeres, das die Geologie, Flora und Fauna des Mainzer Beckens so besonders macht. Den Dünenwald, der ohnehin unter Trockenstress leidet, anzutasten – für den Bürgermeister von Budenheim im Norden von Mainz eine heikle Sache:
"Also, ich bin natürlich gegen die Abholzung, das ist doch ganz klar, und das tut natürlich nicht gut. Die Gemeinde Budenheim hat da selber auch ein Grundstück. Ich geh' mal davon aus, dass ich dann auch im Gemeinderat Widerstand bekomm', dass wir das vielleicht nicht hergeben."
Doch das müssen die Gremien entscheiden, sagt Stephan Hinz am Rande einer Wald-Sommer-Tour des rheinland-pfälzischen CDU-Vorsitzenden. Christian Baldauf glaubt allerdings, dass kein Weg am Ausbau vorbei führt:
"Schauen wir uns mal das Verkehrsaufkommen an, dann musst du Amazon verbieten und andere," sagt Baldauf an die Adresse seines schwankenden Parteifreundes Hinz.

Blauflügelige Ödlandschrecke bedroht

Im Mainzer Sand beugt sich Helmut Ludewig über ein unscheinbares Insekt zwischen gelben Sandstroh- und violetten Flockenblumen: Erst wenn sie hüpft, zeigt die blauflügelige Ödlandschrecke an der Flügel-Unterseite erstaunliche Farbeffekte. Intensiv farbig auch die Schmetterlingsart, die auf den Blutroten Storchschnabel spezialisiert ist, der hier blüht. Was die Autobahn diesem Naturschutzgebiet nimmt, muss flächenmäßig ausgeglichen werden.
"Die Frage ist nur, wer kontrolliert, ob das funktioniert hat, wer greift dann ernsthaft ein, wenn es nicht funktioniert hat", fragt Jürgen Weidmann skeptisch. Vier Fußballfelder Steppenrasen, wo sollen die herkommen? Die Naturschützer Weidmann und Hesping, beide CDU, verweisen auf den gesellschaftlichen Wandel:

"Wir stehen vor einer Klimakatastrophe, die wir versuchen abzuwenden auch mit einer Verkehrswende, und hier in einem europaweit einzigartigen Naturschutzgebiet ziehen wir den alten Stiefel durch."

Mehr Bewusstsein für Naturschutz

"Seit den Meldungen über Insektensterben, über den Klimawandel, Rückgang der Vogelarten und so weiter denken viele Leute anders. Wir brauchen das Ganze noch mal überprüft, ob das alles nicht eine Nummer kleiner geht."
Laut den soeben online gestellten und von der Mainzer Stadtverwaltung ausgelegten Planungsunterlagen ist das Vorhaben schon geschrumpft: Der zuständige Landesbetrieb Mobilität nennt sogenannte "straßenbautechnische Vermeidungsmaßnahmen", um "mögliche Beeinträchtigungen dauerhaft ganz oder teilweise" zu vermeiden. Die Autobahn-Böschungen sollen mit Hilfe von eingezogenen Stützen in der Breite reduziert werden, gebaut werden soll ausschließlich von der Autobahn aus, um das Naturschutzgebiet zu schonen. Während der Brutzeit seltener Vogelarten wie Wiedehopf, Pirol und Heidelerche soll die Baustelle nicht ausgeleuchtet werden. Eine Grünbrücke über die dann inklusive Standstreifen achtspurige Piste soll den Austausch zwischen Biotopen ermöglichen.
Uta Schmitt, Stadträtin von der CDU, erhofft sich vom Autobahnausbau, "dass der Verkehr dann einfach abfließt und nicht so lange in der Gegend verweilt. Durch die vielen Staus kommt es meiner Meinung nach zu viel mehr Emissionen, als wenn der Verkehr gleichmäßig abfließen kann. Man weiß ja, wie weit das Land Hessen da schon ausgebaut hat. Und es wird sich hier zurückstauen!"

Naturschutzverbände könnten noch klagen

Doch Naturschützer bleiben dabei: Autobahnausbau fördert klimaschädliche Mobilität. Der liberale Verkehrsminister Volker Wissing kontert: "Ich halte nichts davon, die gegenwärtigen wichtigen Debatten über Klimaschutz zu benutzen, um alte Debatten über die A 643 erneut zu führen. Es gibt eine klare Entscheidung des Bundes und auch meine klare Zusage, dass ich den Ausbau so wie vorgesehen im Bundesverkehrswegeplan schnellstmöglich umsetzen werde, und das habe ich auch getan."
Mit einer Genehmigung ist nicht vor 2021 zu rechnen – offen bleibt, ob Naturschutzverbände dagegen klagen. Pläne und Gutachten will das Bündnis "Nix in den Mainzer Sand setzen" jetzt daraufhin sichten, ob die Alternative 4 plus 2 – ohne Ausbau - sorgfältig genug geprüft wurde.
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