Aus Tschernobyl lernen - aber wie?

Von Brigitte Lehnhoff · 26.03.2011
Bis zum Erdbeben in Japan war die Reaktorkatastrophe vom 26. April 1986 in Tschernobyl fast schon in Vergessenheit geraten. Das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund hat daher eine Wanderausstellung gegen das Vergessen organisiert.
Osnabrück, Gymnasium In der Wüste, Oberstufenschüler vor dem gemeinsamen Besuch der Ausstellung. Eine Abiturientin stimmt sie ein auf das Thema.

"Wo ist Tschernobyl eigentlich? Ihr seht hier eine Europakarte mit der Ukraine, und damit ihr euch mal die Größenverhältnisse vorstellen könnt, Tschernobyl ist in etwa so weit weg wie Rom, man könnte also vielleicht erstmal denken, dass es geografisch ja wirklich sehr weit entfernt ist und dann die Frage, warum geht uns das eigentlich an."

Was geht die Reaktorexplosion, die fast ein Vierteljahrhundert zurückliegt, Jugendliche von heute an? Auf diese Frage wollen die Macher der Ausstellung antworten. Jeden Besucher schicken sie zunächst durch einen schwarzen Gang. Als die Osnabrücker Schüler ihn betreten, herrscht respektvolle Stille. An den Wänden links und rechts unzählige Namen, Namen verlorener Orte in der Ukraine und in Weißrussland. Ein Schüler:

"Das sind Orte, die einfach nicht mehr bewohnbar sind oder plattgemacht wurden, weil die radioaktive Strahlung einfach zu hoch war."

Der Gang öffnet sich in eine kreisförmige Fläche. Rundherum Ausstellungswände mit informativen Grafiken, Texten und Hörstationen, an den Kurzfilme laufen, etwa über Tag eins nach der Explosion. Ein Filmausschnitt:

"In Pripjat patrouilliert mittlerweile Militär. Doch das Ausmaß der Katastrophe wird den Bewohnern immer noch verschwiegen. Die Strahlung liegt bei 20 Röntgen pro Stunde, das ist das Viermillionenfache der natürlichen Strahlung."

Ein Schüler:

"Ich wusste, dass da eine Reaktorexplosion stattgefunden hatte, aber wie groß diese Ausmaße waren, war mir nicht bewusst vorher, 's ist also erschreckend."

Andere registrieren überrascht, dass die verstrahlte Tschernobyl-Region seit dem Zerfall der Sowjetunion auf drei Staatsgebieten liegt. Und dass mit dem Ende des Kalten Krieges Bürger in ganz Europa Hilfe leisteten, vor allem für Betroffene in der Ukraine und in Weißrussland. Eine Schülerin:

"Ich hab vieles Neues gelernt, vor allem, dass ich jetzt zum Beispiel gerade die Möglichkeit hatte, mit einer Dame zu reden, die von dem Projekt erzählt hat, dass Kinder hierher kommen ein paar Wochen, aus Weißrussland, und dass die hier versuchen, ein paar unbeschwerte Wochen zu verbringen. Das fand ich total beeindruckend, dass man die Möglichkeit hatte, auch mit Leuten zu reden, die selbst da waren und was erzählen konnten. Die Dame hat uns interessante Sachen über die Dörfer erzählt, total interessant."

Das freut Marita Corzilius. Mit anderen Aktiven der Tschernobyl-Hilfe des Kirchenkreises Osnabrück ist sie täglich in der Ausstellung präsent. "Wir wollen für unsere Ferienaktion werben", sagt sie, "weil es immer schwieriger wird, Gasteltern zu finden." Viele Menschen wollten einfach nicht wahrhaben, dass auch die Kinder und Kindeskinder der Tschernobyl-Generation auf lange Sicht gesundheitlich belastet sind. Die 55-Jährige setzt auf das Gespräch mit den Jugendlichen:

"Dass sie eben sensibel für dieses Thema werden und das auch verstehen, was ist damals passiert und warum gibt es überhaupt so eine Ferienaktion, warum werden immer noch Kinder eingeladen nach so vielen Jahren. 25 Jahre, ist ja schon lange her, das denk ich, wird da durch diese Ausstellung auch deutlich."

Nicht nur die Kinder bekommen in der Ausstellung Gesicht und Stimme, auch die sogenannten Liquidatoren. Das sind jene schätzungsweise 800.000 Männer und Frauen, die in die verstrahlte Zone geschickt wurden, um zu löschen, zu retten und aufzuräumen. An jedem Ort der Wanderausstellung stehen zwei Liquidatoren für Gespräche bereit. Eine Schülerin und ein Schüler:

"In der Ausstellung war zu lesen, dass viele der Liquidatoren gar nicht wussten, welchen Strahlungen sie da ausgesetzt sind, wussten sie das von Anfang an, was da ihre Aufgabe ist? - Ja, mich würde es interessieren, ob sie sich von ihrer Regierung vernachlässigt fühlen?"

Die Schüler haben viele Fragen an Waleri Risowannyj aus der Ukraine und Semion Kleiner aus Weißrussland. Die beiden Männer antworten sehr offen und geben den Schülern ihre persönlichen Lehren aus Tschernobyl mit auf den Weg:

"Die wichtigste Botschaft der Ausstellung ist, dass die Menschen sich Klarheit verschaffen müssen über die Ausmaße der Katastrophe. Jeder muss verantwortungsbewusst handeln, egal, wo er arbeitet. Wir müssen global denken und einsehen, dass wir ein gemeinsames Haus bauen. Wenn jemand auf die Idee kommt, nukleare Waffen einzusetzen, kann das die Menschheit vernichten."

Nur wenige Tage später schockieren Bilder aus Japan die Welt. Droht eine neue nukleare Katastrophe? Die Ausstellung hat bei den Osnabrücker Gymnasiasten Spuren hinterlassen. Eine Schülerin:

"Bei mir war das so, dass ich einfach total geschockt war aus dem Grund, dass ich vor allem an die Spätfolgen gedacht hab, weil es ja auch darum geht, dass noch Jahre später schlimme Schäden auftreten, dass es nicht nur akut ist, dass viele Menschen sterben, sondern wirklich noch Jahre später an den Folgen. Und das war das, was mir im Gedächtnis geblieben ist. Vor allem auch bei den Liquidatoren, weil man auch gesehen hat, wie angeschlagen die teilweise waren."

Die Ausstellungsmacher sehen sich bestätigt. Bewusst haben sie sich für den emotionalisierenden Zugang über Zeitzeugen entschieden. Können nun auch die Initiativen, die jedes Jahr Ferienkinder einladen, mit mehr Unterstützung rechnen? Diese Frage stellt sich auch, weil die Tschernobyl-Ausstellung nach Fukushima auf spürbar mehr öffentliches Interesse stößt. Karl-Heinz Rolfes vom Kirchenkreis Osnabrück bleibt dennoch zurückhaltend:

"Ob man das dann auch in neuen Gasteltern für unsere Aktionen umsetzen kann, muss sich dann zeigen in der nächsten Zeit. Wir hoffen da natürlich drauf."

Auch andere Tschernobyl-Initiativen sind ähnlich vorsichtig in der Einschätzung. Sie erwarten vielmehr, dass Bürger nun erst einmal die Atomenergie neu diskutierten, so, wie es auch die Osnabrücker Schüler tun:

"Dass man sich halt einfach bezogen auf die Energie dann eben überlegt, wo kommt diese Energie her, und wie geh ich mit dieser Energie um. Dass ich jetzt nicht sage, Atomstrom ist halt günstig, den schmeiß ich jetzt zum Fenster raus, dass man sich sehr wohl überlegt, wie kann ich Energie einsparen, wie kann ich vielleicht verhindern, dass Atomkraftwerke dann weiter laufen müssen."

"Man muss das gar nicht allein auf den Umgang mit Kernenergie oder Energieformen an sich sehen, sondern jeder sollte für sich selbst gucken, was für Folgen sein eigenes Handeln hat, ja, und seine Entscheidungen danach treffen."

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