Aus für das Berliner Lautarchiv

Von Oliver Kranz · 03.01.2006
Das Lautarchiv der Berliner Humboldt-Universität verfügt über einige der ältesten deutschen Tondokumente. Auf Wachswalzen, Schellack- und Gelatineplatten sind Stimmen berühmter Persönlichkeiten, deutsche Mundarten und fremde Sprachen dokumentiert. Viele Aufnahmen sind inzwischen digitalisiert worden. Wegen Geldmangels gerät diese Arbeit nun ins Stocken.
Die Schätze des Lautarchivs befinden sich in großen stählernen Schubfächern. Die Schellackplatten haben sich in ihren knisternden Pergamenthüllen bestens gehalten. Um die alten Wachswalzen steht es jedoch schlecht. Sammlungskurator Jürgen Mahrenholz öffnet eine etwa 30 cm lange Pappschachtel:

" Wir haben etwa 180 Wachswalzen, die jedoch in einem eher schlechten Zustand sind. Wachs ist ja ein Naturprodukt und leider hat sich im Lauf der 100 Jahre Schimmel auf der Oberfläche abgesetzt, der eine erhebliche Verschlechterung der Qualität nach sich ziehen wird, weil aus Schimmel resultiert klanglich gesehen Rauschen. "

Jürgen Mahrenholz hat in den letzten sechs Jahren die Bestände des Archivs gesichtet und 3800 Schellackplatten auf digitale Tonträger überspielt. Für die Wachswalzen, die Gelatine- und Decelitplatten fehlte ihm bisher die Zeit. Nun muss er seine Arbeit abrupt beenden. Die Volkswagenstiftung, die die Sicherung der Schellackplatten bisher großzügig unterstützte, hat sich anderen Projekten zugewandt und die Humboldt-Universität sieht sich außer Stande, die Arbeit allein zu finanzieren. Das Lautarchiv muss also vorerst schließen.

Dabei können dort viele Tondokumente mittlerweile am Computer abgehört werden. Zum Beispiel Reden des letzten deutschen Kaisers:

Wilhelm II (Aufruf an mein Volk, 1914, nachgesprochen am 10.1.1918 im Schloss Bellevue): " Vor 150 Jahren hat auf den Gefilden von ... weritz Friedrichs des Zweiten Majestät, schon von seinen Zeitgenossen der Große genannt, einen erheblichen Teil seiner Armee zusammengezogen... "

Wilhelm II. beschwor 1914, die Erfolge Friedrichs des Großen, um sein Volk für den Ersten Weltkrieg zu begeistern. Aufgezeichnet wurde die Rede allerdings erst 1918. Da es noch keine Mikrofone gab und für die Aufnahme in einen großen Trichter gesprochen werden musste, der den Schall fast gänzlich verschluckte, war es üblich historische Momente für die Schallplattenaufnahme nachzuinszenieren.

Dass überhaupt Tondokumente gesammelt wurden, ist das Verdienst Wilhelm Doegens. Er war Lehrer und hatte 1909 mit großem Erfolg Schallplatten für den Fremdsprachenunterricht auf den Markt gebracht – Shakespeare und Molière gelesen von Muttersprachlern. 1914 wandte er sich in Briefen an das preußische Kriegs- und das Erziehungsministerium und setzte für die Gründung eines Instituts ein, das Tonaufnahmen von allen Sprachen der Welt sammeln sollte. Jürgen Mahrenholz:

" Auf Grundlage dieses Antrags wurde dann die so genannte phonographische Kommission gegründet ... Diese 30 Wissenschaftler sind dann unter seiner Leitung durch die Kriegsgefangenenlager Deutschlands gezogen und haben einen sehr vielschichtige Sammlung von Sprachen und Musikstilen angelegt, die zum Teil auch heute hier vorliegt. "

Dieses Lied wurde nicht in Afrika aufgenommen, sondern im Kriegsgefangenenlager Wünsdorf. Dort saßen viele Afrikaner ein, die in britischer Uniform gegen die Deutschen gekämpft hatten. Zu der Aufnahme gehört im Lautarchiv eine Akte mit mehreren Seiten. Jürgen Mahrenholz findet sie mit einem Griff.

Die Kriegsgefangenen wurden als wissenschaftliches Forschungsobjekt betrachtet. Ethische Bedenken hatte damals niemand. Der Umstand, dass es die Kultur des Feindes war, die durch die Aufnahmen verewigt wurde, schien die phonographische Kommission nicht zu stören.

Mahrenholz: " Es hängt sicher auch mit der Faszination von Schallaufzeichnungsmöglichkeiten zum damaligen Zeitpunkt zusammen. Die Erfindungen waren noch nicht so alt und ein ethisches Bewusstsein was das Medium betrifft musste sich erst noch entwickeln. "

Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges wurden 250 Sprachen und zahlreiche Musikstile dokumentiert. Danach beschäftigten sich die Forscher vorrangig mit deutschen Dialekten. Sie legten Menschen aus verschiedenen deutschen Regionen 40 Sätze vor und baten sie, sie in ihrer Mundart zu sprechen.

Falls Sie es nicht erkannt haben, das war Allemannisch. Gustav Huber aus Hornberg bei Bad Säckingen sagte: "Ich schlage dir gleich den Kochlöffel um die Ohren, du Affe! Und: Wo gehst du hin, sollen wir mit dir gehen?" Anhand dieser Sätze konnten die Lautfärbungen verschiedener Dialekte verglichen werden.

Aus heutiger Sicht kurios erscheint ein Projekt, das Mitte der 20er Jahre auf Bitte des Berliner Polizeipräsidenten gestartet wurden. Wissenschaftler zeichneten in Gefängnissen die Stimmen von Verbrechern auf, weil man glaubte, eine kriminelle Veranlagung vielleicht schon an der Sprache erkennen zu können.

O-Ton des Fassadenkletterers Fritz Wald (Aufnahme vom 13.7.1926): " Da mir bekannt war, dass der Besitzer der Villa sehr reich ist und ich den Standpunkt vertrete, dass niemand durch seiner Hände Arbeit sehr reich werden kann, so hielt ich meinen Raub für gerechtfertigt, denn ich hatte ja auch Arbeit dafür zu leisten. "

... erklärte der Fassadenkletterer Fritz Wald 1926. Als sich für die Verbrechensbekämpfung keine Anhaltspunkte ergaben, wurde das Projekt eingestellt. Das Lautarchiv hält jede Menge interessante Entdeckungen bereit – nicht nur für Sprachforscher.