Aus einer anderen Welt

04.10.2006
Im Zentrum von Christoph Ransmayrs neuem Roman "Der fliegende Berg" stehen zwei Brüder, die sich aufmachen, um einen Berg zu besteigen, der bislang noch nicht bezwungen wurde. Ransmayr erzählt eine Geschichte, die optimistisch beginnt und in einer Katastrophe endet.
Von der Südwestküste Irlands machen sich zwei Brüder auf den Weg in den Transhimalaya. Die Reise führt sie in die Bergregionen Osttibets und das Land Kham. In Breiten, in denen der Schneemensch vermutet wird, suchen sie nach jenem letzten weißen Flecke, einem sagenhaften Berg, den die Bewohner der Region den Phur-Ri, den fliegenden Berg nennen.

Besonders Liam ist fasziniert und besessen von dem Gedanken, dass es ihm gelingen könnte, als erster diesen Berg zu besteigen. Er überzeugt seinen drei Jahre jüngeren Bruder, obwohl sich dieser eher dem Meer, als den Bergen verbunden fühlt, sich zusammen mit ihm auf eine abenteuerliche Reise zu begeben, die in der Bergbesteigung ihren Höhepunkt finden soll. Doch was so optimistisch angegangen wird, endet in einer Katastrophe. Liam wird von dieser Reise nicht zurückkehren. Während es ihm noch gelingt, seinen Bruder vor dem Erfrieren zu retten – er entreißt ihn förmlich dem Kältetod – wird er nach dieser Rettung unter einer Lawine begraben.

Insofern handelt Ransmayrs Roman von einer Katastrophe, auf die der Überlebende in der Vergegenwärtigung des Geschehens immer wieder zurückkommt. Doch so zentral im Handlungsverlauf dieser Verlust auch ist, Ransmayr erzählt in seinem Roman, dessen Sprache geradezu lyrisch ist, auch vom Verlorengehen und von Verlorengegangenem.

Angekommen in der archaischen Welt, die eingerahmt wird von schneebedeckten Bergen und einer sich mit jedem Sonneneinfall verändernden Landschaft, erwachen und wachsen in den beiden Brüdern sehr unterschiedlichen Vorstellungen davon, wonach zu streben im Leben Sinn macht. Während Liam dem Höhenrausch verfällt, er findet den Gedanken verlockend, er könnte als erster einen Berg bezwingen, den niemand vor ihm bezwungen hat, reicht seinem Bruder bereits das Erlebnis der Besteigung eines Sechstausender. Danach entwickelt er nur noch schwache Energien, weitere Gipfel in Angriff zu nehmen. Denn was Liam offensichtlich in den Bergen sucht, hat er in der Liebe zu Nyema gefunden. Mit ihr und durch sie entdeckt er eine Welt, die sich nicht durch den Fortschritt definiert, sondern vom Mythos bestimmt ist. Dieser Frau fällt er entgegen, indem er der Liebe verfällt. Und es ist dies kein Fall in die Tiefe, sondern ein "emporfallen", wie es Ransmayr beschreibt. Dieser Bereich des Lebens bleibt Liam verstellt, er sich in seinen Bestrebungen am Höhenmesser orientiert. Ihn zieht es nach oben, aber in messbare Höhen, aus denen er in die Tiefe fällt.

Ransmayr hat ein Buch über Liebe und Verlust, über Halten und Loslassen, über Finden und Verlieren geschrieben, das, obwohl angesiedelt in einer fernen Bergwelt, in unsere unmittelbare Gegenwart hineinruft. Wie ein Echo aus unbekannter Ferne hallen die Themen, von denen Ransmayrs Roman handelt, zu uns herüber. Er verschafft ihnen Gehör, indem er an sie erinnert. Bildmächtig erzählt Ransmayr von einer anderen, aber doch von dieser Welt, dabei ganz auf eine Sprache vertrauend, die nicht überzeugen will und keiner Appelle bedarf. Der Roman gleicht nicht nur in der Form einem Langgedicht, sondern auch die Sprache ist von Lyrismen durchsetzt, sodass das Buch durch seine zauberische, seine verzaubernde Kraft lange nachhallt.

Rezensiert von Michael Opitz

Christoph Ransmayr: Der fliegende Berg
Roman
Fischer Verlag 2006
359 Seiten. 19,90 Euro