Aus der heroischen Frühzeit des Tourismus

Eine Welt vor der Globalisierung scheint in den Reisebildern von Jan Neruda auf. Der Tscheche bereiste zwischen 1861 und 1875 viele europäische Städte. Unglaubliche Farbigkeit und unglaublicher Schmutz springen einem aus den Schilderungen entgegen.
Warum sollte man reisen? Der "Weise", schreibt Jan Neruda, "findet immer etwas, was ihn noch weiser macht, und auch dem Dummkopf schadet das Reisen nicht: er wird überall Brüder finden." Also ist der Tscheche, der bereits mit Gedichten hervorgetreten war und als Journalist arbeitete, zwischen 1861 und 1875 in Städte der k.u.k. Monarchie, nach Paris, Neapel, Jerusalem, Hamburg und Berlin gereist.

Er hat auch die Hunde von Konstantinopel bellen hören, sah sie den Müll durchstöbern und mit eingezogenem Schwanz noch dann in den Straßen ihres Reviers bleiben, wenn ein Brand alle Häuser verwüstet hatte und die Menschen längst weitergezogen waren.

Die "Hunde von Konstantinopel" ist ein Band betitelt, der einen in Deutschland unbekannten tschechischen Klassiker (1834-1891) vorstellt. Nerudas "Kleinseitner Geschichten" aus dem Prager Kleinbürgertum sind ein beliebtes Mitbringsel aus der Moldaustadt, wo sie in einer schönen Ausgabe auch auf Deutsch verlegt werden. Doch 30 Bände der 39-bändigen Neruda-Akademieausgabe, schreibt die Herausgeberin und Übersetzerin Christa Rothmeier in ihrem viel zu knappen Nachwort, enthalten journalistische und lierarisch-publizistische Arbeiten, darunter auch die Reisebilder, aus denen der Autor in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts fünf Bücher zusammenstellte.

Langweilig wird einem bei der Lektüre der Feuilletons nicht – nicht nur, weil es sich um die heroische Frühzeit des Tourismus handelt: In Griechenland drängt die Regierung dem Reisenden eine bewaffnete Eskorte zum Schutz vor Briganten auf, sobald er seinen Fuß aus der Hauptstadt Athen setzt, und in der judäischen Wüste hält Neruda in der linken Hand die Zügel, die rechte Hand aber liegt wegen der Wegelagerer auf dem Revolver. In dieser Gegend also, bemerkt er trocken, werde "Christus angeblich einmal den Antichrist besiegen, vorerst würden ein paar Patrouillen aber nicht schaden."

Unglaubliche Farbigkeit und unglaublicher Schmutz springen einem aus den Reisebildern entgegen. Offenbar hatte Neruda kaum Zugang zu den Häusern Einheimischer. Er unternimmt keine Grand Tour zu Freunden und Verwandten oder Standesangehörigen – er besichtigt Paläste mit Führern, vor allem aber treibt er sich auf den Straßen und auf den Märkten herum. Von ihnen erzählt er panoramaartig auf mal sechs, mal 30 Seiten und lässt Heerscharen von Menschen mit nicht wenigen Tieren am Auge des Lesers vorüberziehen.

Noch tragen die Völkerschaften ihre höchst unterschiedlichen Kleider, noch besitzt jede Stadt ein unverwechselbares Gepräge, und Neruda überlässt sich dem bunten Treiben gern und mit treffender Beschreibungslust: "Das wichtigste Kennzeichen der griechischen Tracht ist, dass alles an ihr zu klein ist."

In Berlin fällt ihm die Traurigkeit und Melancholie in den einförmigen Bauten auf, in Hamburg der fehlende Sinn der Bürger für das, was "sich nicht zählen und verkaufen, essen und trinken läst". Den Parisern aber hält er bei aller Liebe vor, dass sie die Tschechen nicht kennen und ihrem Böhmen sogar das Wort geraubt hätten: mit dem Bohèmien.

Eine Welt vor der Globalisierung scheint in diesen Reisebildern auf. In den Texten über Wien und Triest, wo sich Neruda gut mit Slowenen versteht, meldet sich zudem ein Panslawismus zu Wort. Doch vor der Verführungskraft kräftiger politischer Losungen feit den Tschechen die Faszination der sichtbaren Wirklichkeit. Eine große Menschenfreundlichkeit spricht aus seinen Texten, eine säkulare Zuversicht und zuweilen leichte Frivolität. Wenn sich auf dem Wiener Wurstelprater die Velozipede so heftig im Kreis drehen, dass bei den "ausnahmslos molligen" Damen die roten Strumpfbänder sichtbar werden, dann beschließt der Augenmensch sein Feuilleton schelmisch: "Wer die Augen schließen möchte, kann es tun, es ist nicht verboten."


Rezensiert von Jörg Plath


Jan Neruda, Die Hunde von Konstantinopel
Ausgewählt, übersetzt und mit einem Nachwort von Christa Rothmeier.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2007, 370 Seiten, 19,95 Euro