Aus den Feuilletons - Wochenrückblick

Berauscht von der Erfahrung der Macht

Eine Frau hält ein Poster mit einer Solidaritätsbekundung für "Charlie Hebdo" hoch
Eine Frau hält ein Poster mit einer Solidaritätsbekundung für "Charlie Hebdo" hoch. © AFP / Frederick Florin
Von Arno Orzessek  · 10.01.2015
Der Anschlag auf das französische Satiremagazin "Charlie Hebdo" war das alles beherrschende Thema der Feuilletons. Hier ein Rückblick.
"Obelix trägt Trauer",
titelte die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG
Und bildete eine Zeichnung von Albert Uderzo ab, die das Superhelden-Trio Asterix, Obelix und Idefix sprachlos, betrübt und buchstäblich niedergedrückt zeigt.
Es war kein frivoles, sondern ein anrührendes und im Übrigen tiefsinniges Bild. Denn der Mordanschlag von Paris erschüttert nicht nur die Realität in Europa, er manipuliert auch die Gestalten unserer Vorstellungskraft.
Für die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG war der vergangene Mittwoch "Frankreichs 11. September"-
und wer diese Analogie für unscharf halten mochte, dem erklärte Marc Zitzmann, der einst in Paris nahe der Redaktion von Charlie Hebdo gewohnt hatte:
"Erst jetzt verstehe ich richtig, warum viele New Yorker bis heute traumatisiert wirken. […] Wenn hierzulande das Wort von 'Frankreichs 11. September' die Runde macht, so zielt der Vergleich nicht auf die Opferzahl oder auf die Verwüstung des Stadtbildes ab, sondern auf den symbolischen Schaden. Was den USA die einstürzenden Zwillingstürme waren, sind Frankreich die fehlenden Seiten in dem Satireblatt […]. Stand drüben ein Emblem des himmelstürmenden Kapitalismus im Visier der Terroristen, so ist es hüben die Verkörperung der 'Liberté', der politischen Meinungs- und künstlerischen Schaffensfreiheit. Eine Kulturnation wie Frankreich trifft das mitten ins Herz."
So Marc Zitzmann in der NZZ.
Die FRANKURTER ALLGEMEINE ZEITUNG befand dagegen, nicht nur Frankreich sei im Herzen getroffen, und titelte geografisch raumgreifender:
"Ein Anschlag auf das Wertvollste, was der Westen hat".
FAZ-Autor Jürg Altwegg beleuchtete die unheimliche Tatsache, dass die Schüsse auf die Redaktion von Charlie Hebdo am Tag der Auslieferung von Michel Houellebecqs Islam-Roman Unterwerfung fielen.
"Die Schüsse auf die Redaktion von 'Charlie Hebdo' galten auch Houellebecq [so Altwegg]. Die Terroristen waren über die journalistischen und literarischen Gepflogenheiten bestens informiert."
Tatsächlich war Houellebecqs Roman, der ein freundliches muslimisches Frankreich im Jahr 2022 entwirft, das wichtigste feuilletonistische Bindeglied der Woche, die der Mordanschlag blutig mitten entzwei riss.
Unter der spöttischen Überschrift "Ausweitung der Konsenszone" kritisierte Thomas Steinfeld in der SZ – wohlgemerkt noch vor dem Anschlag:
"[Der Roman] ist ein Zwitter zwischen Satire und Utopie, mit der Folge, dass sich der Satiriker Michel Houellebecq nicht darauf festlegen lässt, eine Provokation im Sinn gehabt zu haben, während sich der Träumer Michel Houellebecq nicht darauf festlegen lässt, dass seine Erfindungen noch erfundener seien als etwa die Insel Liliput bei Jonathan Swift."
Gregor Dotzauer nahm dagegen im TAGESSPIEGEL den Roman 'Unterwerfung' komplett ernst und lobte unter der dräuenden Überschrift "Der kommende Aufstand":
"Das alles besitzt eine intellektuelle Farbigkeit, die sich nicht auf satirische Absichten reduzieren lässt […]. Es ist […] im besten Sinne Literatur: eine in ihrer Vieldeutigkeit unausdeutbare Versuchsanordnung, die an jener Mischung aus Verblendung und Opportunismus rüttelt, die Intellektuelle zu Stalin, Mao und Pol Pot führte – und sich nun dem wahren und einzigen Propheten andient."
Nach dem Anschlag deutete und diskreditierte SZ-Autor Steinfeld Houellebecqs Roman dann als "Lockruf des Schreckens"
Während andere Feuilletonisten sich lieber in die Deutung der erschreckenden Ereignisse vertieften.
In der Tageszeitung DIE WELT verglich Dirk Schümer französische mit hiesigen Verhältnissen:
"Der mutige Kabarettist Dieter Nuhr beispielsweise ist vor ein paar Wochen bei der deutschen Staatsanwaltschaft wegen ein paar treffend abfälligen Worten über islamischen [Schümer sagt ausdrücklich nicht: islamistischen] Terror verklagt worden. Auch er dürfte seine Worte nach den Blutbildern von Paris sehr genau abwägen und hoffentlich weitermachen. Wir alle aber müssen sofort hinschauen, wenn – wie in Holland nach dem Mord an [dem Filmemacher] Van Gogh geschehen – auch bei uns den Opfern bei 'Charlie Hebdo' die Schuld an der eigenen Ermordung zugschrieben wird. Motto: Warum mussten sie sich auch mit dem Islam anlegen? In diese verheerende Linie passt die duckmäuserische Sprachregelung der ARD, die in ihren Nachrichten noch Stunden nach dem Pariser Anschlag verkündet, ein islamistischer Hintergrund sei unbestätigt."
So in der WELT Dirk Schümer, der sicher rein gar nichts von der alt-ehrwürdigen Einsicht hält, dass der Klügere bisweilen nachgibt.
So oder so ging die WELT unter allen großen deutschen Tageszeitungen am entschlossensten auf Konfrontationskurs.
Unter der Parole "Ende des Appeasements" forderte die niederländisch-amerikanische Politikwissenschaftlerin Ayaan Hirsi Ali:
"Nach jeder Attacke von Islamisten heißt es, sie habe nichts mit dem Islam zu tun, der eine Religion des Friedens sei. Diese Beschwichtigung muss aufhören."
Der islamische Theologe Mouhanad Khorchide würde an dieser Stelle sicher auf Differenzierung pochen.
In der FRANKFURTER RUNDSCHAU betonte Khorchide:
"Die eigentliche Ursache der Gewalt ist die prekäre politische und soziale Lage von Menschen, die sich ausgegrenzt und gedemütigt fühlen. Sie überhöhen ihre Frustration, indem sie Gewalt als 'heilig' und 'gottgewollt' hinstellen. Die Selbstinszenierung der Pariser Terroristen zeigt, dass sie als 'Vollstrecker göttlicher Rache' berauscht sind von der Erfahrung eigener Macht. Für Menschen, die sich sonst immer ohnmächtig erlebt haben, ist das unglaublich faszinierend." –
Nie mehr zum Islamismus-Komplex äußern kann sich indessen Ulrich Beck.
Bevor Charlie Hebdo, Michel Houellebecq und die Mörder von Paris die Agenda der Woche übernahmen, betrauerten die Feuilletons den Tod des Soziologen und Zeitdiagnostikers.
In der SZ hielt der britische Fachkollege Anthony Giddens kurz und bündig fest: "Ulrich Beck war der größte Soziologe seiner Generation."
Und der Philosoph Bruno Latour betrauerte Becks Tod als "Tragödie [….] für ein europäisches Denken."
Ob 'Tragödie' hier der falsche Begriff ist, sei dahingestellt.
Stets richtig wäre es aber, Becks Vorliebe zu teilen, die in der NZZ Überschrift wurde.
Sie lautete: "Die Risiken denken."