Aus den Feuilletons

Wie Linke skrupellosen Geschäftemachern helfen

04:22 Minuten
Soldaten der Bundeswehr in Kundus tragen einen Holzzaun.
Der angekündigte Abzug des Westens aus Afghanistan hätte mehr Erschütterungen auslösen müssen, schreibt die "Zeit". © imago-images / photothek / Thomas Trutschel
Von Hans von Trotha |
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Die "Zeit" sieht den Abzug westlicher Truppen aus Afghanistan als Kapitulation, die nicht ausreichend als solche wahrgenommen wird. Die Wochenzeitung nutzt Kontext und Moment, den "zynischen Kulturrelativismus" von links zu brandmarken.
"Vielleicht", mutmaßt Jens Jessen in der ZEIT, "hat Corona die Öffentlichkeit abgelenkt. Vielleicht war es die Aufregung um Trump, vielleicht ist es die Weltklimakatastrophe, vielleicht hat sich der Westen schon an die Rolle des ohnmächtigen Zuschauers gewöhnt."
Und dann kommt er zu seinem Thema: "Der Abzug seiner Truppen", also der des Westens, "aus Afghanistan, die dort einst angetreten waren, Menschenrechte und Demokratie gegen den Terror der Taliban zu verteidigen, hat jedenfalls nicht die Erschütterung ausgelöst, die einer solchen Kapitulation angemessen wäre."

Das Wiederaufkommen des Kulturrelativismus

Als wahres Thema entpuppt sich allmählich ein anderes, tiefer gehendes: Jessen identifiziert einen sich ausbreitenden Kulturrelativismus.
"Die Feinde der Aufklärung im Westen", schreibt er, "haben es sich schon gemerkt. Es gibt eine gespenstische Kongruenz zwischen dem Afghanistan-Debakel und dem Wiederaufkommen eines zynischen Kulturrelativismus. Der Westen, so sagen die neuen Relativisten, dürfe seine Begriffe von Vernunft und Recht, auch Menschenrechten, nicht für universal halten, sie schon gar nicht anderen Völkern und Kulturen aufzwingen; das sei Kolonialismus."
Jessen wird grundsätzlich. Er findet es "unehrlich, in Afghanistan (oder im Irak) gegen den totalitären Islamismus zu kämpfen, aber mit Ländern wie Saudi-Arabien und Pakistan verbunden zu bleiben, die diesen Islamismus unterstützen. Man wünscht den Demonstranten in Hongkong von Herzen alles Gute – aber die Geschäfte mit China will man nicht opfern. Man missbilligt auch die saudische Förderung des autoritären Islams, aber Panzer möchte man ihnen weiter verkaufen."
Das, so Jessen, "ist der moralische Skandal – und um ihn zu dämpfen, kommt der Kulturrelativismus wie gerufen. Seine Verfechter mögen sich als kolonialismuskritisch und 'links' empfinden, aber tatsächlich erleichtern sie nur das schlechte Gewissen der Geschäftemacher, wenn sie erklären, der Westen solle nur ja nicht glauben, durch den Export seiner Werte etwas Gutes zu tun. 'Bingo!' wird der Geschäftsmann rufen. Wenn er das nicht glauben muss – umso besser für die Geschäfte."
Daneben, also auch in der ZEIT, geht Christian Staas auf eine andere aktuelle Debatte um einen Kulturrelativismus ein – ebenfalls aus dem Geist der Kolonialismuskritik genährt, einen Revisionismus der Erinnerungskultur – die schon als neuer Historikerstreit gehandelt wird: "die Frage, ob das Holocaustgedenken der Erinnerung an andere Genozide und koloniale Verbrechen im Weg steht".
Anlass ist "eine Polemik des australischen Genozid-Forschers A. Dirk Moses gegen die deutsche Erinnerungskultur". Staas zeigt sich irritiert, dass sich "hier ein Fürsprecher marginalisierter und nichteuropäischer Akteure rhetorisch ins Fahrwasser rechter 'Schuldkult'-Verächter begibt", mahnt jedoch, man solle "es sich in seiner Empörung nicht zu bequem machen".

Der Relativierung des Holocaust entgegentreten

In der WELT bringt sich Alan Posener in Stellung, indem er sich daran macht, "linke Irrtümer über den Holocaust" auszuräumen. Er spitzt die These, um die hier gestritten wird, auf die Frage zu: "Ist die Einzigartigkeit des Holocaust eine deutsche Obsession, die dazu dient, unsere Kolonialverbrechen zu überspielen?"
"Nein", schreibt Posener, "als Übertragung kolonialer Methoden auf 'Weiße' macht der Holocaust keinen Sinn. Als Höhepunkt des fast zweitausendjährigen christlichen Antijudaismus schon." Und:
"Der Holocaust ist das große Ärgernis - freilich beileibe nicht das einzige - in der Fortschrittserzählung Europas; es ist aber auch das große Ärgernis - freilich nicht das einzige - in der postkolonialen Erzählung, die die Welt nach rassischen Kategorien in böse Weiße und ihre schwarzen und farbigen Opfer einteilen will. Der Holocaust passt nicht in die Kategorien, die Ideologen zimmern. Darum wollen ihn alle Ideologen kleinreden und relativieren. Auf der Einmaligkeit des Holocausts bestehen", meint Alan Posener, "heißt vor allem: die Möglichkeit von Universalgeschichte und Universalmoral und das Konzept der historischen Wahrheit verteidigen, das im Zeitalter des Relativismus wichtiger ist als je zuvor."
ZEIT-Autor Christian Staas sieht in der aktuellen Debatte einen Anfang. Es wird, prophezeit er, "wie auf dem langen Weg zum heutigen Holocaustgedenken, noch viel gestritten werden". Und er meint: "Dirk Moses' Polemik lässt erahnen, wo es wehtun wird."
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