Aus den Feuilletons

Wie Dinge in Bewegung kommen

Der frührere U.S. Präsident Barack Obama und First Lady Michelle Obama stehen am 20. Januar 2017 während der Nationalhymne vor der Militärbasis Joint Base Andrews in Maryland
Michelle und Barack Obama wollen in Zukunft auch Geschichten erzählen - als Produzenten für das Produktionsunternehmen Netflix. © imago stock&people
Von Hans von Trotha · 22.05.2018
Manchmal reicht schon eine kaputte Tastatur, um den Impuls zu einer Geschichte zu finden, weiß die "taz". Neue Geschichten werden aber auch durch das Engagement aktiver und pensionierter Politiker angestoßen - oder liegen im Telefonbuch.
Konzentrieren wir uns mal aufs Geschichtenerzählen.
Manche Geschichten werden nur erzählt, um dann erzählt worden zu sein. Das sind die Beruhigendsten. Zu ihnen gehört "Die Geschichte vom kleinen E", die Detlef Kuhlbrodt in der taz erzählt. Eigentlich ist es eher eine kleine Geschichte vom E – denn, das fällt beim Lesen als Erstes auf: das kleine E, das sich ja nur dadurch auszeichnet, dass es klein ist und sonst eigentlich nichts Eigenes hat, wird immer groß geschrieben. Nur einmal unterläuft es Kuhlbrodt in seiner Geschichte. Im errsten Satz:
"Zwei Monate lang war das kleine E von der Tastatur schon kaputt." Höhepunkt: "Ich fragte den Apfelfreund - von der EDV -, ob er mir ein billiges E besorgen könne." Und einmal unterläuft ihm ein kleines E, und zwar in dem fast anrührend zarten Satz: "Ich scheute mich, das e zu berühren". Ja, so erzählt man Geschichten.

Ein bewegendes Vorbild aus Frankreich

Oder so, wie Jörg Häntzschel in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, der beobachtet hat, wie Politik in Bewegung gerät, wenn es einen gibt, der so cool ist, dass alle als seine Nachahmer dastehen wollen, sprich: seit es Macron gibt.
"Es ist erstaunlich", erzählt Häntzschel, "wie belebend Konkurrenz auch in der Politik wirkt. Seit Emmanuel Macron die Führung unter Europas ehemaligen Kolonialmächten beim Umgang mit geraubten Objekten in ihren Museen übernommen hat, ist das Thema plötzlich zu einem der wichtigsten Anliegen der deutschen Kulturpolitik geworden. Und weil die Verhandler der neuen Großen Koalition die Zuständigkeit dafür zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Kulturstaatsministerium aufgeteilt haben, konkurrieren diese nun um die wichtigere Konferenz, die prominenteren Experten, die kühneren Ideen."

Sex als Zahlungsmittel

In der taz erzählt Ingo Arzt auch eine Geschichte aus der Politik, nämlich die Geschichte vom "Kapitalismus der Liebe". Da Macron den noch nicht ausgerufen hat, handelt es sich bei Arzts Geschichte um business science fiction. Und Ingo Arzt kommt nicht weit, weil er schon über die nächstliegende Vorstellung stolpert, nämlich die "körperliche Liebe".
"Bonobo- Affen", weiß Arzt, woher auch immer, "kopulieren zwar, um die Verteilung von Futter zu regeln, aber Sex als Zahlungsmittel in einer modernen Gesellschaft? Stellen Sie sich vor, Sie stehen in einer Bäckerschlange. Christian Lindner ist der Verkäufer. "Das", da hat Arzt Recht, "macht Angst."

Geschichten vom Erzähl-Profi

Man sollte das Geschichtenerzählen denen überlassen, die immer schon Geschichten erzählt haben. Das wird Netflix künftig tun. "Präsidiale" Geschichten wittert Kurt Sagatz im Tagesspiegel und Michael Hanfeld in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG gar einen "Präsidentenkanal", weil die Obamas künftig für den Streamingdienst als Produzenten tätig sein werden.
Jedoch weiß der Tagesspiegel: "Als politisches Instrument wollen Barack und Michelle Obama ihr Engagement nicht verstanden wissen. Michelle Obama erklärte, sie wolle sich vielmehr aufs Geschichtenerzählen konzentrieren." Na also. Michelle Obama sagt sogar: "Ihr Mann und sie hätten `immer an die Macht des Geschichtenerzählens geglaubt.´"

Geschichten aus dem Telefonbuch

Na, wenn das nicht ehrlich ist. So klar hat Macron das noch nicht gesagt. Und Frau Merkel würden wir es gar nicht abnehmen. Überhaupt hat ja jedes Land seine Art, Geschichten zu erzählen. In Schweden tut das, wen wundert´s der Staat, und zwar indem er das, was alle Schwedinnen und Schweden lesen sollen, in alle schwedischen Briefkasten stopfen lässt. Es handelt sich um eine Broschüre mit dem Spannung verheißenden Titel: "Wenn die Krise oder der Krieg kommt". Früher hieß das Teil nur: "Wenn der Krieg kommt", und Reinhard Wolff berichtet in der taz auch dessen Vertriebsgeschichte, dessen "erste Auflage 1943 herausgegeben wurde, nach der Besetzung Dänemarks und Norwegens durch Nazideutschland." Die Broschüre erschien dann "in Neuauflagen bis 1961 und", besonders pfiffig, "als Beilage zum Telefonbuch bis in die 1980er Jahre."

Schwedische Angst vor den Russen

Dass dieses Teil in einem Land, das, so die taz, "seinen letzten bewaffneten Konflikt 1814 geführt hat", jetzt fröhliche Urständ feiert, ist Teil der Geschichte, die erzählt werden soll, nämlich die Geschichte vom "Rysskräck" . Das, lernen wir von Reinhard Wolff, heißt: "Angst vor den Russen oder Russland", und ist "laut dem Wörterbuch der Schwedischen Akademie ein seit über 100 Jahren etabliertes Wort. Den Rysskräck gibt es laut Umfragen als reale Furcht derzeit bei rund einem Drittel der Bevölkerung. Aber", so Wolff, "es gibt ihn auch als politische Konstruktion: die ‚Rysskräck-Politik‘, die diese Angst für ihre Zwecke ausnutzt."
Da keiner mehr das Telefonbuch abholt, kann man dem nichts mehr beilegen – und muss es wieder in die Briefkästen stopfen. Da kann man anscheinend immer noch sicher sein, dass die Geschichte ankommt, die man grad erzählt haben will.
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