Aus den Feuilletons

Wie der Sozialismus sein "menschliches Antlitz" verlor

Von Hans von Trotha |
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Vor 52 Jahren endete der Traum einer politischen Liberalisierung in der Tschechoslowakei. Die militärische Niederschlagung des Prager Frühlings habe auch das Experiment eines "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" vernichtet, schreibt die "taz".
Zugegeben: Es ist nicht leicht, einen langen Sommer hindurch täglich Feuilletons zu füllen. Erst Recht nicht, wenn eine Pandemie weite Teile der Kultur lahmlegt und sich eine beim Lesen Fluchtimpulse auslösende Ermüdung angesichts bestimmter Beobachtungen breitmacht, die die Pandemie zulässt – etwa die Überschrift "Streaming ist ein schlechter Ersatz", aktuell im TAGESSPIEGEL. Diesmal geht es um das Festival "Tanz im August". Gegen Ende des Sommers sind die feuilletonistischen Ideenreservoirs aufgebraucht. Was macht man da?

Monika Maron hat neue Bedürfnisse im Alter

Nun, in der WELT interviewt der 74-jährige Henryk M. Broder die 79-jährige Monika Maron zum Thema Altern. Die Fragen sind nicht über die Maßen inspiriert - etwa: "Und womit verbringen Sie den Tag?" Oder: "Wahrscheinlich denken die Schweine, wenn sie einen von uns sehen: 'Dummer Mensch!'" – was nicht heißt, dass sich der Satz der Interviewten "Ich merke vor allem eines: Je älter ich werde, umso lieber bin ich allein" zwingend gegen den Interviewer richten muss. Immerhin erfahren wir auf Nachfrage, dass Arbeit "unbedingt" gesund macht – und dass Monika Maron mit 30 gemerkt hat, dass sie alt wird.

Die Niederschlagung des Prager Frühlings

Da auch die runden Jubiläen längst aus sind, würdigt die TAZ auch mal ein unrundes: den 52. Jahrestag der Niederschlagung des Prager Frühlings, den Rudolf Walter als "Geschichtszeichen" im Sinne Kants interpretiert. Oft, erläutert Walter, "sind es nicht erfolgreiche Revolutionen, die - Zitat Kant: 'das Fortschreiten zum Besseren' anzeigen, sondern Niederlagen, Rückschläge und Katastrophen. Das, meint der Autor, "trifft im besonderen Maße auf den 21. August 1968 zu, den Tag der militärischen Vernichtung des Experiments 'Sozialismus mit menschlichem Antlitz'".

Erschöpfendes Dauerthema Corona

Die Überschrift "Die große Überforderung" in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG bezieht sich nicht auf das Füllen der Feuilletons, sondern auf Italien, das "in seiner Zerrissenheit ein Musterfall europäischer Erfahrung" sei, was Durs Grünbein ausführlich nach einer Rückkehr in die eigene römische Wohnung darlegt. Dabei gerät er dann aber doch auch zwangsläufig in die gängigen Wiederholungsschleifen.
"Das Ganze ist wie ein Albtraum, aber einer, der sich bei Tage abspielt, aus dem es kein Erwachen gibt, ein Albtraum, der nicht mehr aufhört. Ein Erreger rast um die Welt, infiziert Millionen, tötet Hunderttausende, und in welches Ausland du auch kommst, er ist immer schon vor dir da. Allgegenwärtig hängt er als Drohung in der Luft, buchstäblich in Form von Aerosolen, die einem auf der Nase tanzen und den Einzelnen zur sozialen Distanz zwingen. Die Welt hat nur noch ein Thema, die Nachrichten treten auf der Stelle, seit Monaten gibt es nur noch diese eine Aufmacherstory, retardiert das Drama mit dem Titel Covid-19. Aber auch das Gerede darüber dreht sich immer nur im Kreise, fesselt das Denken, das für so viele Weltprobleme benötigt wird, bindet alle politischen Kräfte."

Der Berliner Flughafen wird doch fertig

Da horcht man gleich auf, wenn es doch ein echtes Ereignis gibt, bei dem es auch noch etwas zu rezensieren gibt: nämlich den offenbar fertig werdenden Flughafen Berlin-Brandenburg.
Der TAGESSPIEGEL kalauert "Nur Fliegen ist schöner", und die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG räumt dem Ereignis genüsslich viel Platz ein. Der Flughafen sei "seit 2006 im Bau und spätestens seit 2012 Gegenstand von Hohn und Spott in der ganzen Welt, vor allem aber Süddeutschland".
"Von Muschelkalk und Nussbaumholz" ist die Rede: "Es gibt einfach viel davon. Sehr viel", heißt es. Dasselbe gelte "für die Stützen, Pfeilerchen und Säulen. Touristen, die ihren Baedeker gelesen haben, werden vielleicht sogar erkennen, dass ihnen schon mal der Schinkel angedeutet werden soll, den es dann auf der Museumsinsel zu sehen geben wird."
Fazit: "Mehr Muschelkalk als in den Staatsbauten der Dreißigerjahre, mehr Holzvertäfelung als in allen Ratskellern des Landes, eine weitere von Berlins neoklassizistischen Shoppingmalls, nur halt mit Gates zum Rollfeld. Bei der Besichtigung äußert jemand leise das Wort 'gebaute Flugscham'."
Genau so erwartet man sich den Münchner Blick auf den BER. Bernhard Schulz macht es am Ende seiner TAGESSPIEGEL-Rezension ganz kurz: "BER ist ein Ort zum Abfliegen wie zum Ankommen, mit begrenzter Verweildauer und ohne Sensation" – und schickt uns also doch wieder ungetröstet zurück in die Sommerflaute.
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