Aus den Feuilletons

Wie der Brexit Familien spaltet

Buchstabenwürfel formen die Begriffe Britain, Brexit, Out und No auf der Fahne von Großbritannien
Buchstabenwürfel formen die Begriffe Britain, Brexit, Out und No © imago stock&people/Christian Ohde
Von Burkhard Müller-Ulrich · 22.12.2016
Zum Halbjahrestag des Brexit beschreibt die "TAZ", wie diese politische Entscheidung in Großbritannien Familien spaltet. Gerade zu Weihnachten brenne in manchen Häusern die Luft.
Auf den Tag genau sechs Monate nach dem Brexit lässt der von der deutschen Presse unisono prognostizierte Untergang Albions zwar noch immer auf sich warten, aber aus Anlass des Halbjahrestages, legen sich manche Zeitungen nochmal ins Zeug. Die SÜDDEUTSCHE lässt vier Autorinnen und Autoren aus England, Schottland, Wales und Nordirland zu Wort kommen, natürlich nur EU-Befürworter, die sich über die brexitierende Mehrheit ihrer Landsleute maßlos aufregen. Adam Thirlwell beklagt allen Ernstes
"den Siegeszug einer Politik, die wenn schon nicht faschistisch, dann zumindest ihrem Wesen nach dem Faschismus ähnlich"
sei. Und Ben Rawlence erklärt im Interview das politische Selbstvertrauen vieler Briten zum Problem. Es liege daran,
"dass Großbritannien die Geschichte des Imperialismus noch nicht wirklich aufgearbeitet"
habe.

Die ältere Generation und politische Zukunftsentscheidungen

Etwas weniger einseitig als die SZ gibt sich immerhin die TAZ, indem sie eine Reportage darüber bringt, wie der Brexit viele Familien spaltet. Gerade zu Weihnachten, wenn sich die Remainers und die Brexiteers am Esstisch treffen, brennt in manchen Häusern die Luft, und ein kürzlich erschienenes E-Book mit dem Titel
"'Surviving Brexit Christmas' gibt Ratschläge, wie man den Stress begrenzen kann."
Doch auch der TAZ-Text ist nur aus der Perspektive der wütenden Unterlegenen jener epochalen Abstimmung geschrieben. Zum Beispiel so:
"Viele junge Menschen gaben an, sie hätten das Gefühl, ihre Rechte als EU-BürgerInnen seien ihnen von der älteren Generation entrissen worden – auch von ihren eigenen Eltern und Großeltern – die nicht von den Konsequenzen betroffen sein werden."
Nimmt man dieses Argument ernst, dann folgt daraus, dass man der älteren Generation die Mitwirkung an jeglichen politischen Zukunftsentscheidungen verwehren sollte, denn sie ist ja von den Konsequenzen nicht betroffen. Allerdings werden auch TAZ-Leser mit der Zeit älter und lesen dann solche Sprüche mit weniger Behagen. Im Übrigen zeugt es von einer gewissen Jugendlichkeit, wenn die Autorin behauptet:
"Selten waren in Großbritannien Gefühle so eng mit politischen Themen verbunden."
Sie hat offenbar die Thatcher-Ära nicht erlebt.

"Großdebatte über die Einhaltung von Debattenordnungen"

Nun ist die Spaltung der Gesellschaft auch bei uns das große Weihnachtsthema, und seit Montagabend sicherlich noch mehr. Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG führt es gewissermaßen exemplarisch vor: Nachdem am Vortag Feuilleton-Herausgeber Jürgen Kaube das Regierungs-Mantra (die Straftaten der Migranten sind bloß Einzelfälle; man darf Schuld nur dem jeweiligen Täter und nicht seiner Herkunft zurechnen) ausgebreitet hat, rückt jetzt Christian Geyer ein paar Dinge über das Wesen kriminalistischer Ermittlungen zurecht:
"Man muss mit Vorannahmen reingehen, wenn man mit gerichtsfesten Beweisen herausgehen möchte. Mit anderen Worten: Der verdächtige Mensch kommt als Merkmalsträger in den Blick, wird als Musterfrau, als Mustermann gescannt, nicht als unausschöpfbares Individuum."
Man muss sich, um es mit Christian Geyer in der FAZ zu sagen,
"auch nicht dümmer stellen, als man ist. Heißt es, den Berliner Anschlag zu instrumentalisieren, wenn man jetzt die Sicherheitspolitik in Deutschland und Europa debattiert?"
Manche Politiker und Medienleute versuchen ja, solche Debatten mit diskursethischen Verboten zu unterbinden – es sei noch zu früh, es handele sich um Spekulation, Verallgemeinerungen seien unverantwortlich und so weiter. Geyer bezeichnet das als
"eine einzige Großdebatte über die Einhaltung von Debattenordnungen."

Unversöhnliche Lager zum Weihnachtsfest

In der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG hält sich Joachim Güntner an diese Ordnung nicht und bekennt:
"Weil die moralischen Affekte so sind, wie sie sind, nämlich kulturalistisch eingefärbt, liegt die Gefahr der Vermischung nahe: Der Fremde, dessen verwerfliches Handeln wir auf einen fremden Sittenkodex zurückführen, wird rasch zum Stellvertreter dieser Sittlichkeit. So kommt seine Herkunft ins Spiel."
Auch da zeichnen sich zum Weihnachtsfest zwei ganz unversöhnliche Lager ab: Die einen wollen über Identitätspolitik reden – und die anderen das auf jeden Fall vermeiden.
Mehr zum Thema