Aus den Feuilletons

Wessen Stunde nun schlägt

04:21 Minuten
Der Virologe Hendrik Streeck bei der Vorstellung der sogenannten Heinsberg-Studie zur Coronavirus-Ausbreitung
Der Virologe Hendrik Streeck ist einer, dessen Stunde nun schlägt. © picture alliance/ Flashpic/ Jens Krick
Von Hans von Trotha · 23.04.2020
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Ist es die Zeit der Virologen? Der Historiker? Oder doch die der Publizisten? Auf wen es in der derzeitigen Krise nun ankommt, wen sie auf die öffentliche Bühne stellt, scheint vor allem eine Frage des Standortes zu sein.
"Es ist nicht die Stunde der Historiker", stellt Martin Sabrow, Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam, im TAGESSPIEGEL fest. Wessen Stunde ist es denn dann? Das scheint stark vom jeweiligen Standort abzuhängen.
Aus Russland etwa berichtet Inna Hartwich in der TAZ von einem regelrechten "Corona-TV" mit der Botschaft: "Es gibt einen, der alles unter Kontrolle hat: Wladimir Putin."
Vielleicht ist ja aber auch die Stunde der Künstler? Eher nicht, glaubt man Uli Hannemann, der, ebenfalls in der TAZ, die Frage stellen zu müssen meint: "Ist Corona-Unterstützung für Kulturschaffende gefährlich, weil dann die gierigen Südländer mitbekommen, dass wir sogar für so was Unnützes Geld übrig haben?"

Virologen als neue Pop-Stars

Nein, in Deutschland schlägt vielmehr "Die Stunde der Star-Virologen". So sieht man das zumindest in Zürich, respektive in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG (Printausgabe), und zwar sieht Pauline Voss das dort, gelinde gesagt, kritisch:
"Die Corona-Krise hat in Deutschland eine völlig neue Art von Pop-Star hervorgebracht", schreibt sie, "den Virologen. Einer nach dem anderen rücken sie ins Licht der Öffentlichkeit, steigen auf und fallen tief. Nun", konzediert Voss, "stellt die Einschätzung der Lage in Zeiten einer Pandemie eine enorme Herausforderung dar.
Und doch", fährt sie fort, "geben derzeit in Deutschland gerade die beratenden Wissenschaftler ein besonders fragwürdiges Bild ab. Sie treffen Aussagen, die man als dumm abtun könnte, kämen sie nicht von Koryphäen ihres Fachgebiets."
Erst geht es gegen Christian Drosten, dann gegen Hendrik Streeck. Zitat: "Dieser wechselt seine Positionen auf ähnlich eindrucksvolle Weise wie Drosten." Und: "Innerhalb von dreißig Minuten schafft es Streeck, sich häufiger selbst zu widersprechen, als (Markus) Lanz das Wort.
Es ist die Stunde der Star-Virologen", resümiert Voss, "Experten können in dieser epochalen Ausnahmesituation zu Helden werden. Doch ein Held wird nicht, wer sich zum Schmuckstück der Mächtigen macht."

Wer macht die Experten zu Stars?

Rumms. Das sitzt. Aber hat da jemand im Furor übersehen, wer diese Helden Helden nennt, wer sie ernennt, kreiert, hofiert und bei Bedarf entsorgt? Hat Pauline Voss nicht gerade selbst geschrieben: "Einer nach dem anderen rücken sie ins Licht der Öffentlichkeit, steigen auf und fallen tief"? Handelt es sich dabei um einen wissenschaftlichen Vorgang, einen politischen oder nicht doch eher um einen publizistischen?
Ist das also vielleicht überhaupt die Stunde der Publizistik? Der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl bemerkt in der WELT: "Wir haben es mit einer Diskursexplosion zu tun. Was man am Vormittag liest, ist am Nachmittag schon veraltet und vergessen. Es wird gerade sehr viel Vergangenheit produziert, täglich, stündlich."
Also doch die Stunde der Historiker? Schauen wir genauer in den TAGESPIEGEL, wo Martin Sabrow fragt: "Warum ist die Vergangenheit in der Krise schlicht nicht systemrelevant?", um nach einem Blick auf diverse Beispiele vom Börsenkrach 1929 über Tschernobyl 1986 bis zum Finanzcrash 2008 festzustellen: Derlei Ereignisse taugen als "Vergleichsmaßstab zur Abschätzung der weltwirtschaftlichen Erschütterung, die die aktuelle Pandemie hervorruft.
Der historische Vergleich", schreibt Sabrow, "relativiert die zeitgenössisch erlebte Tiefe historischer Zäsuren, und er dämpft die Wucht der Augenblickserfahrung. Der Blick zurück kann in der Krise helfen – und Zuversicht spenden."

"Wir sprechen uns nach der Krise"

Siehe Afrika. Auch dort ist das kulturelle Leben, wie Ole Schultz in der TAZ beschreibt, in weiten Teilen "zum Erliegen gekommen." Schultz beobachtet aber: "Ein Vorteil Afrikas bei der Corona-Bekämpfung könnte sein, dass es lange Erfahrung im Umgang mit Infektionskrankheiten hat – von Malaria bis Ebola. Und das hilft auch mental.
Afrika habe jedenfalls eine 'größere Belastbarkeit Schocks gegenüber'", zitiert Schultz den senegalesischen Sozialwissenschaftler Felwine Sarr. "Dass in Bezug auf Afrika – wie sonst auch – jetzt nur das Schlimmste prophezeit werde, sei der alten 'rassistischen Herablassung' geschuldet. Sarr frohlockt darum: 'Wir sprechen uns nach der Krise!'"
Es kommt wirklich ganz entschieden auf den Standort an, wenn man bestimmen will, wessen Stunde da gerade schlägt.
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