Wenn Orte an ihren Besuchern kaputtgehen

Von der "Disneylandisierung unserer Städte" erzählt die "NZZ" - Venedig besuchen 150.000 Touristen pro Tag. Auf große Reise lässt sich allerdings auch im Kopf gehen, zum Beispiel mit einem guten Buch. Wie man das erkennt, ein gutes Buch, ergründet die "FAZ".
Wumms, was für ein Bild! Die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG räumt dem Foto des riesigen, 15 Stockwerke hohen Kreuzfahrtschiffes, das sich durch Venedigs Lagune schiebt und die Häuser der Traumstadt klein wie Legosteinchen wirken lässt, ebenso viel Platz ein wie dem Text dazu. Schadet nix, denn es ist augenfällig, was man liest: Manch Metropole geht langsam an ihren Besuchern kaputt. "Die Disneylandisierung unserer Städte"nennt Adrian Lobe diese Entwicklung. Wenn auf eine Viertelmillion Venezianer bis zu 150.000 Touristen kommen – pro Tag! – "dürfte die Balance sicher nicht mehr gewahrt sein", meint selbst die bedächtige NZZ.
Eine Wohnung in der Innenstadt von Paris oder London kann sich kein einheimischer Normalverdiener mehr leisten, Soziotope zerfallen, wenn jeder Tourist sie sehen will – "City nur noch als VIP-Bereich"? Das könnte so kommen, wer in London beim Silvesterfeuerwerk an der Themse dabei sein will, muss jetzt schon zahlen. Umsonstgucker schauen nur von fern.
Wer gerne liest, der kann im Kopf auf große Reise gehen – die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG stellt der Literaturagentin und früheren Verlegerin Elisabeth Ruge die 1-Millionen-Dollar-Frage:
"Wie erkennt man ein wichtiges Buch unter Hunderten Manuskripten?"
Elisabeth Ruge hat gerade gleich drei wichtige Literaturpreise sozusagen mitgewonnen, den Nobelpreis, den Deutschen Buchpreis und den Prix Goncourt, weil sie das richtige Gespür hatte für die Werke von Swetlana Alexijewitsch, Frank Witzel und Mathias Ènard. Ihre schlichte Antwort: "Es hat viel mit Intuition zu tun" und:
"Guter Stil hat eine geradezu tröstliche Qualität".
Manchmal solle man wohl auch eher einem klugen Lektor als einer Marketingabteilung trauen, dann zeige es sich, dass es eben doch geht! Dabei muss der 800 Seiten Ziegelstein des Buchpreisträgers Frank Witzel, der "von der Geburt des Terrorismus aus dem Geist der alten Bundesrepublik" und dessen Titel sich bis heute keiner merken kann, für jede Marketingabteilung erstmal wirklich der reinste Horror sein – und dann klappte es doch.
Westerwelle "macht die Deutschen weich"
Guido Westerwelles Buch über seine Krebserkrankung ist marketingtechnisch wohl das entschieden kleinere Risiko, ging durch alle Gazetten. Ein früher eher unbeliebter Politiker mit großem Mitteilungsbedürfnis "macht die Deutschen weich", konstatiert die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, und meint das ausnahmsweise nicht ironisch:
"Es gibt diesen Herbst bedeutend bescheuertere Neuerscheinungen als diese, und zwar viele."
Und was kommt nach, bei den jungen Autoren, die beim Nachwuchswettbewerb open mike erstmals ihren Hut in den Ring werfen? Nicht so viel, meint die FRANKFURTER ALLGEMEINE:
"Sie haben wenig zu sagen, dies aber sehr gekonnt. Zumindest in den besten Fällen."
Könnte – auch – daran liegen, dass Literatur heute allzu sehr gepampert wird, über hunderte Förderungen und Kleinstpreise, etwa den Studiengang "ästhetische Praxis in Hildesheim", die "Romanwerkstatt Edenkoben",oder das ORF Literaturförderungsnachwuchsprogramm – das Wort passt kaum in die Zeile. Auch um das "BKA Startstipendium" kann man sich bewerben, und wird dann nicht vom Bundeskriminal-, sondern vom Bundeskanzleramt gefördert. In Österreich.
Wenn es mit der eigenen Begabung zum Schreiben hapert und man nicht nur einsam selber lesen will, könnte, sollte man doch mal wieder – jemandem Vorlesen. "Wissenschaftlerin findet Belege für soziale Kompetenz" und "Vorlesen macht bessere Menschen" frohlockt die BERLINER ZEITUNG. Die Stiftung Lesen, die ZEIT und die Deutsche Bahn haben eine Soziologin die Wirkung des Vorlesens auf Kinder erforschen lassen, und wir wissen zwar nicht, welche Marketingabteilung sich da jetzt noch einklinkt, aber sie können ja schon mal üben: Am 20. November ist bundesweiter Vorlesetag!
Vielleicht profitieren von der guten Wirkung ja nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene, Versuch macht klug … kann jedenfalls nicht schaden!